Frau Prof. Kemper, im ersten Teil unseres Gespräches haben Sie bereits betont, wie wichtig die Mensch-Tier-Beziehung ist. Jetzt lese ich täglich von der KI-Revolution in allen Wirtschaftsbereichen und auch für die Nutztierhaltung existieren bereits zahlreiche KI-basierte Anwendungen: Mikrofone, die Husten im Schweinestall erkennen, Kameras, die Bewegungsmuster von Hühnern aufnehmen, Lahmheiten bei Kühen erkennen etc. Haben wir zukünftig auch im Stall so viel KI, dass der/die Tierhalter*in nur noch morgens mal kurz den PC anschalten muss, um Empfehlungen zur Behandlung der Tiere abzurufen?
Meiner Einschätzung nach sind wir davon noch recht weit entfernt. Ich glaube nicht, dass es so kommen wird. Solche KI-basierten Systeme sind Unterstützung – kein Ersatz.
Unsere aktuellen Forschungsarbeiten, unter anderem die Ergebnisse aus dem Experimentierfeld „DigiSchwein“ zeigen eindeutig das Potential bestimmter Sensoren und KI-basierter Systeme. Allerdings können, zumindest in der Schweinehaltung, die am Markt verfügbaren Teillösungen noch nicht zu einem richtigen Gesamtsystem zusammengefasst werden.
KI kann natürlich schon heute recht viel, aber die einzelnen Sensorsysteme in der Schweinehaltung sind oft proprietär. Das heißt, sie sind nicht ein übergeordnetes System integriert, das die gesamten Daten gebündelt nutzt, sondern einzelne Firmen haben einzelne Sensoren und Lösungen im Angebot. Die Konnektivität ist allerdings noch nicht so weit, dass sich zum Beispiel alles in einer App zusammenführen lässt.
Hinzu kommen dann noch Fragen zu Datenschutzgrundlagen und die oftmals wenig stabile Netzanbindung im landwirtschaftlichen Betrieb. Und auch die Zeitkontingente, die für die tägliche Wartung von Sensoren und Systemen eingeplant werden müssen, sollten nicht unterschätzt werden. So banale Sachen wie die Luftfeuchte, Stallstaub, Fliegen oder Spinnenweben können bei Sensoren oder Kameras die Funktionsfähigkeit massiv einschränken. Auf der anderen Seite sind einige Systeme schon über mehrere Jahre praxiserprobt und liefern zuverlässige, valide Ergebnisse. Dazu zählt beispielsweise die Hustenerkennung beim Schwein. Insgesamt sind wir aber noch weit von einer praxisreifen, allumfassenden Gesamtlösung entfernt.
Dann kommt ein genereller Punkt hinzu, der für alle Tierarten gilt: Ein 24/7-Monitoring ist natürlich sinnvoll, da das niemand personell leisten kann. Aaber die Erfahrung und das Gefühl für die Tiere im direkten Umgang, das Verantwortungsbewusstsein des Menschen kann kein Algorithmus übernehmen. Es liegt immer noch beim Tierhalter und der Tierhalterin, Entscheidungen zu treffen. Einen vollautomatisierten Stall wird es in unseren Strukturen nicht geben, wenn Tierwohl erreicht und gewahrt werden will.
In anderen Ländern, wo größere Tiergruppen intensiver gehalten und entsprechende Verluste in Kauf genommen werden, mag das zukünftig anders aussehen. Aber zu den Anforderungen, die wir an unsere heimische, tiergerechte Nutztierhaltung haben, passt der vollautomatische Stall ohne Menschen nicht – und zu unserer Verantwortung für unsere Nutztiere auch nicht-
Beim Milchvieh ist der Mensch-Tier-Kontakt ja noch recht intensiv und KI vielleicht nicht so entscheidend, aber wie sieht es beim Geflügel aus?
In der Geflügelhaltung mit hohen Tierzahlen ist die Einzeltierbetreuung schwieriger. So bekommt die Tierbetreuerin/der Tierbetreuer eine Panik in der Herde eventuell gar nicht mit, wenn gerade niemand im Stall ist. Hier können KI-basierte Kamerasysteme gut ungewöhnliche Tierbewegungen und generelles Verhalten erfassen und Warnsignale beispielsweise per App übermitteln. Flächendeckend sind solche Systeme noch nicht im Einsatz, aber dies wird sich vermutlich ändern.
In der Forschung haben wir schon einige automatisierte Monitoringsysteme getestet, etwa die automatisierte Erkennung von Federpicken bei Puten. Die Ergebnisse waren damals – es ist schon einige Jahre her – nicht ganz so vielversprechend. Die frühen Warnzeichen erkannte ein Mensch schneller. Aber die Technik entwickelt sich rasant weiter, so dass hier auch mit neuen Entwicklungen zu rechnen ist.
Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist die automatisierte Erfassung des Tränkeverhaltens, also der pro Tier oder Tiergruppe aufgenommenen Wassermenge. Bei Absetzferkeln trinken die Tiere weniger, wenn eine Infektion im Anmarsch ist. Unsere Daten haben dies eindeutig belegt. Interessant dabei ist aber, dass zeitgleich auch die Mitarbeitenden im Betrieb erkannt haben, dass mit der Tiergruppe etwas nicht stimmt. Hier waren Mensch und Technik quasi gleich auf, die automatisierte Erkennung also auch nicht schneller als das Stallpersonal. Das finde ich beruhigend, da es unterstreicht, wie gut und wichtig die direkte Tierbetreuung ist.
Gibt es an der TiHo noch weitere „KI-Projekte“ beim Schwein?
Ja, unter anderem haben wir eine automatisierte Früherkennung von Schwanzbeißen anhand von Schreien getestet. Die Frage war: Treten in einer Bucht diese typischen hohen Schreie gehäuft auf, die ein gebissenes Schwein zeigt? Dazu hat ein Doktorand sehr, sehr aufwendige Untersuchungen durchgeführt. Wir haben evaluiert, ob diese Schreie aussagekräftig sind und ob sie eindeutig auch auf die betreffende Bucht zurückzuführen sind. Anhand von Videos wurde validiert, ob es sich bei den erkannten Schreien tatsächlich um ein Beiß-Ereignis handelte. Alle Tiere waren individuell markiert, so dass Gebissene und Beißer erkannt wurden.
Das System gibt ein Alarmsignal, wenn pro Stunde eine bestimmte Häufigkeit von Schreien überschritten wird. Dann lässt sich der Beißer anhand der Videos identifizieren und kann aus der Gruppe genommen werden. So ließ sich Schwanzbeißen in unseren Versuchen gut eindämmen. Gerade beim Schwanzbeißen als multifaktorielles Problem kann solch ein Monitoringsystem ein wertvoller Baustein und eine sinnvolle Ergänzung zur Prävention sein.
Zum Dauerthema Stallklima gibt es aber schon eine Menge automatisierter Systeme.
Ja, Stallklima-Monitoring, also die kontinuierliche Messung von Temperatur, Luftfeuchte, Zugluft oder auch Schadgasen ist teils relativ einfach und wird, im Zuge des Klimawandels, in Zukunft noch wichtiger werden. Solch ein Monitoring ist auch immer sinnvoll, wenn es um die Bewertung von Haltungssystemen unter verschiedenen Gesichtspunkten geht. So bewegen wir uns beispielsweise in frei belüfteten Ställen immer einem Spannungsfeld zwischen Stallklima, Tierwohl und Seuchenschutz. In Zeiten von Tierseuchen müssen solche Ställe, wie sie vor allem auch beim Geflügel zu finden sind, eventuell „dicht gemacht“, also zwangsbelüftet, werden. Dazu haben wir kürzlich ein Projekt abgeschlossen, in dem bewertet wurde, wie ein Masthühner-Stall nach Bedarf von frei- auf zwangsbelüftet umgerüstet werden kann, indem unter anderem die Jalousien geschlossen werden und das Lüftungssystem umgestellt wird. Dieses „Vorbereitet sein“ auf Tierseuchen oder Pandemien, auch unter dem Begriff „Pandemic Preparedness“ zusammengefasst, wird in Zukunft noch wichtiger werden.
Und wo sehen Sie noch Herausforderungen für eine ideale KI-Unterstützung?
Die Grundlage eines guten KI-Tools ist eine plausible Rohdatenerfassung. Dies setzt unter anderem robuste Sensoren voraus. Dass dies in der Stallumgebung schwierig ist, ist offensichtlich, denn ein Stall ist nun mal kein Reinraum. Manchmal machen auch die Tiere nicht das, was von ihnen erwartet wird. So ist es bei Stationen für die Einzeltier-Erkennung ungünstig, wenn zum Beispiel zwei Tiere die Station betreten, was eigentlich nicht so vorgesehen ist, aber wo die Tiere einen Weg finden, sich dort auch zu zweit gemütlich niederzulassen.
Ganz allgemein stellen bei KI-basierten-Systemen in landwirtschaftlichen Betrieben noch oft die Mobilfunkabdeckung und Breitbandverfügbarkeit ein Problem dar. Aber dabei wird sich in den nächsten Jahren sicher noch viel weiterentwickeln, genau wie bei den digitalen Entwicklungen allgemein. Abschließend: Trotz Digitalisierung und KI ist der Mensch durch seine Tierbeobachtung, Sinneswahrnehmung und der zentrale Faktor in der Tierbetreuung. Die Mensch-Tier-Beziehung ist und bleibt dabei der Schlüssel zu einer guten Nutztierhaltung!
Frau Prof. Kemper: herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch!
Link zum ersten Teil des Interviews “Allen Nutztieren soll es gut gehen“
Prof. Dr. Nicole Kemper leitet das Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie (ITTN) an der Tierärztlichen Hochschule Hannover
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