Das erste Ziel dieser kanadischen Studie* war es, die gesundheitlichen Auswirkungen häufiger Krankheiten und Syndrome bei Milchkälbern vor dem Absetzen anhand der Einschätzungen von Milcherzeugern und Tierärzten zu bewerten und in sogenannte „Disability Weights“ (DW, Gewichtungsfaktor für gesundheitliche Beeinträchtigungen) zu übersetzen. Diese DWs sind Zahlenwerte zwischen 0 und 1, wobei 0 für vollständige Gesundheit und 1 für den Tod steht. Sie dienen dazu, die Krankheitslast zu erfassen – insbesondere die durch Krankheit eingeschränkten Lebensjahre, wie sie in der Berechnung von DALYs (disability-adjusted life years) verwendet werden. Das zweite Ziel der Untersuchung bestand darin, zu vergleichen, wie unterschiedlich Landwirte und Tierärzte die gesundheitlichen Auswirkungen einschätzen. Sie hatten die Hypothese aufgestellt, dass sich ihre Perspektiven unterscheiden könnten. Zudem sollte für jede Krankheit ein konkreter DW-Wert ermittelt werden.
Zur Datenerhebung wurden 39 Milcherzeuger und 52 Tierärzte befragt. Fast alle Landwirte (97,4 %) waren Teilnehmende der tierärztlichen Außendienstklinik der Faculté de Médecine Vétérinaire der Universität Montreal in Saint-Hyacinthe (Québec, Kanada) und in entsprechende Forschungsprojekte eingebunden. Die Tierärzte wurden entweder über ihren Berufsverband oder direkt über die Rinderklinik der Universität kontaktiert.
Zur Bewertung diente eine visuelle Skala: Eine horizontale Linie von 0 (keine Auswirkung) bis 10 (maximale Auswirkung, also Tod oder Euthanasie). Mit ihrer Hilfe sollten die Teilnehmer die gesundheitlichen Auswirkungen von neun häufigen Kälberkrankheiten und -syndromen einschätzen – darunter Durchfall, Schwergeburt, unzureichende passive Immunitätsübertragung, Frakturen, Wunden oder Abszesse, Arthritis, Atemwegserkrankungen, Nabelinfektionen und angeborene Defekte. Die Einschätzungen wurden mithilfe einer etablierten Methode (BetaPERT-Verteilung) in Wahrscheinlichkeitswerte umgerechnet, um daraus DWs im Bereich zwischen 0 und 1 abzuleiten.
Die wahrgenommenen Auswirkungen unterschieden sich je nach Krankheit deutlich. Am stärksten belastend wurden Frakturen (Durchschnittswert 6,49/10), Arthritis (6,22/10) und angeborene Defekte (6,03/10) eingeschätzt. Die geringste Auswirkung wurde Wunden oder Abszessen zugeschrieben (3,42/10). Insgesamt stimmten die Bewertungen von Erzeugern und Tierärzten weitgehend überein, allerdings gab es bei einigen Erkrankungen signifikante Unterschiede. So bewerteten Tierärzte etwa Arthritis (6,88 gegenüber 5,13), Nabelinfektionen (4,74 gegenüber 3,65) und Schwergeburten (4,58 gegenüber 3,87) höher als die Landwirte. Trotz dieser Unterschiede zeigte sich eine starke Korrelation (0,72) zwischen den Rangfolgen der beiden Gruppen, was auf ein grundsätzlich ähnliches Verständnis der Krankheitsauswirkungen hinweist.
Insgesamt zeigt die Studie, dass sich Landwirte und Tierärzte bei der Einschätzung der gesundheitlichen Belastung durch Kälberkrankheiten weitgehend einig sind. Die Ermittlung von DWs stellt einen wichtigen ersten Schritt dar, um künftig auch bei Kälbern ein messbares Gesundheitsmaß zu etablieren, ähnlich wie es in der Humanmedizin längst üblich ist. Solche Kennzahlen könnten künftig eine wichtige Rolle in der Beurteilung, Vergleichbarkeit und Entscheidungsfindung im Bereich Tiergesundheit spielen – sowohl für Tierärzte als auch für Erzeuger und die gesamte Branche.
*Studie: Ramos, Joan Silva et al. (2025): Quantifying the impact of frequent diseases and syndromes on calf health using the opinions of producers and veterinarians: Toward dairy calf disability weights. Journal of Dairy Science, Volume 108, Issue 3 p 2734-2748
Quelle: Der Hoftierarzt, Dr. Heike Engels
Zuerst erschienen im E-Magazin „Der Hoftierarzt“ 3-2025.
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