Frau Prof. Kemper: Kürzlich forderten Sie auf einer TiHo-Veranstaltung es müsse „allen Nutztieren gut gehen“. Der Handel bietet ja aktuell fünf Haltungsstufen an, wäre es denn in ihrem Sinne, wenn man sagt; „Stall“ und „Stall und Platz“, also die Stufen eins und zwei, müssen gut sein und alles darüber darf dann „sehr gut“ sein. Oder brauchen wir überall „sehr gute“ Haltungsbedingungen?
Allen Nutztieren soll es gut gehen und es muss klar definiert sein, was wir damit meinen. Die Klassifizierung in diese unterschiedlichen Stufen bedeutet ja vordergründig betrachtet eigentlich Glück oder Pech der Geburt für die Tiere. Hier muss genau hingeschaut werden: Auch in Haltungsstufe 1, und vor allen Dingen 2 und höher, lässt sich gutes Tierwohl realisieren und muss auch realisiert werden. Es geht aus meiner Sicht weniger um das Label für die Verpackung, sondern darum, dass Tierwohl als Ergebnis – für das Tier – betrachtet wird und nicht einfach als Etikett. Gutes Tierwohl lässt sich zum Beispiel auch in Haltungsstufe 2 realisieren. Eine differenzierte Betrachtung ist wichtig, auch in den höheren Haltungsstufen: So kann es unter Umständen besser sein, wenn die Tiere z. B. einen Frischluftstall haben, aber keinen Auslauf, da ein Auslauf auch mit negativen Einflüssen auf die Tiergesundheit einhergehen kann, wenn er nicht optimal gestaltet ist. Es ist längst nicht so einfach wie Label uns oftmals suggerieren.
Wenn ich an die Hühner denke, weiß ich nicht, was die im Auslauf so alles fressen. Ich bin deshalb ein großer Fan von Wintergärten: da gibt es Klimareize, aber beispielsweise keine Zigarettenkippen, die sie aufpicken und keinen Habicht.
Ja, und beim Schwein genauso; Sonnenbrand ist ein Thema, denn ein „Klimareiz“ ist ja nicht immer zwingend positiv. Aktuell habe wir zum Prädatorendruck in der Geflügelhaltung ein Forschungsvorhaben im Rahmen unseren großen ZERN (Zukunft Ernährung Niedersachsen)-Verbundes, um genauer zu untersuchen, welche Bereiche nutzen Hühner im Auslauf überhaupt? Nutzen sie wirklich den gesamten Auslauf oder haben sie möglicherweise so viel Angst, dass Raubvögel von oben angreifen, dass sie sich nur engeren Stallbereich aufhalten? Wie lassen sich Schutzbereiche schaffen, die tatsächlich auch aufgesucht werden, wie Prädatoren vertreiben?
Hier kommt ein ganz wichtiger Aspekt ins Spiel: Wir haben in Sachen Biosicherheit unheimlich viel erreicht in den letzten Jahrzehnten. Im Auslauf ist der Eintrag von Erregern wie dem Aviären- Influenza-Virus ungehindert möglich. Es existiert ein Zielkonfliktzwischen Tierwohl durch mehr Auslauf und Biosicherheit. Hier muss eine genaue Abwägung und Ziel-Priorisierung erfolgen; und: ja manches lässt sich eben auch nicht realisieren und manche Risiken lassen sich nicht komplett ausschließen.
Stichwort „Sonnenbrand beim Schwein“: Im Sommer suchen Schweine mit Auslauf ja ihren Stall auf oder Hütten im Freiland oder nutzen dort eine Suhle. Aber im Frühjahr und Herbst, wenn es nicht so heiß ist, die Sonne aber schon, respektive noch richtig Kraft hat, können sie ruckzuck einen Sonnenbrand bekommen.
Ein wichtiges Thema: Wie können wir Ausläufe so gestalten, dass Schweine eben keinen Sonnenbrand bekommen? Hierzu wird demnächst ein Verbundprojekt starten, bei dem wir uns, gemeinsam mit der Landwirtschaftskammer NRW auf Haus Düsse anschauen, wie die Auslaufnutzung bei Schweinen in der ökologischen Haltung und die Sonnenbrandprävention optimiert werden kann. Gegensteuern ließe sich übrigens auch mit nicht so hellen Schweinerassen – dies wäre eine Frage für die Tierzucht.
Überhaupt sind der Klimawandel und seine Folgen ein sehr großes Thema in der Nutztierhaltung. Wie schütze ich die Tiere vor hohen Temperaturen? Wie lassen sich Möglichkeiten der Kühlung schaffen? Und wie lassen sich dabei Folgewirkungen für die Umwelt minimieren?
Bei den niedrigen Haltungsstufen frage ich mich, ob Haltungsstufe 1 noch zukunftsfähig ist. Ich denke eher nicht, wenn man sieht, wo die Anforderungen des Lebensmitteleinzelhandels hingehen.
„Stall und Platz“ sollte dann vermutlich das Minimum werden.
Mit Blick auf das Tierwohl ist das so, auch wenn wir dann im internationalen Wettbewerb nicht überall wettbewerbsfähig sind.
Vielleicht helfen da die Erfahrungen mit dem niederländischen Label „Beter leven“, das ja seit Jahren sehr erfolgreich ist, mit Marktanteilen von 25-30% beim Schwein und 40% bei den Hühnern.
Etliche deutsche Geflügelmäster an der niederländischen Grenze beliefern ja auch „Beter leven“. Die mir bekannten Erfahrungsberichte sind durchweg positiv. Landwirte berichten, dass die Geflügelhaltung und der Umgang mit den Tieren so mehr Freude macht. Und das ist genau der Punkt: letztendlich müssen die Tierbetreuer erkennen, ob es den Tieren gut geht. Hier ist das Mensch-Tierverhältnis entscheidend. Das weiß auch jeder gute Landwirt/jede gute Landwirtin.
Deswegen finde ich die Bestrebungen des Einzelhandels gut, in die höheren Stufen zu gehen und diese von den Lieferanten zu fordern. Der Einzelhandel ist hier der größere Treiber als die Politik.
Der Eindruck drängt sich tatsächlich auf!
Wichtig ist es zu betonen, dass, wie schon erwähnt, das Tierwohl nicht automatisch besser ist, je höher die Haltungsform ist. Die Frage ist immer: Was sind die konkreten Auswirkungen der Haltungsumwelt auf das Tier? Kann das Tier in der jeweiligen Art des Haltungssystems ein gutes Tierwohl erleben?
Es ist bei näherer Betrachtung nicht einfach zu definieren, was eigentlich Tierwohl ausmacht. Jeder Verbraucher hat wahrscheinlich eine Vorstellung von einem „glücklichen Tier“. Das ist die Kuh auf der Weide, das ist die Henne, die im Freiland pickt oder das Schwein, das sich suhlen kann.
Das ist aber aus wissenschaftlicher Sicht, wenn auf die harten Fakten geschaut wird, nicht unbedingt so einfach. Ein sehr gutes Hilfsmittel sind dabei die objektiven Tierwohl-Indikatoren, also z. B. Schlachtbefunde, die etwa Parasitenbefall zeigen. Parasiten sind ein wichtiges Thema bei Auslaufhaltung. Weitere Tierwohl-Indikatoren sind zum Beispiel Fußballenveränderungen beim Geflügel, generelle Veränderungen an den Gliedmaßen, oder Organveränderungen.
Der Nachteil bei der Indikatoren-Bewertung am Schlachthof ist natürlich, dass die Beurteilung retrospektiv erfolgt: Erst am toten Tier wird faktenbasiert erkannt, wie es dem Tier in dem jeweiligen Haltungssystem während seines Lebens erging. Das Tier selbst hat nichts mehr davon. Diese Informationen können aber zur Verbesserung der Haltungsbedingungen für die Tiere in den folgenden Durchgängen genutzt werden.
Als Ergebnis könnte beispielsweise herauskommen: das Schwein wurde zwar in einem tollen Stall gehalten, war aber im Tierwohl beeinträchtigt. Wie aussagekräftig wäre dann eine hohe Label-Stufe?
Letztendlich ist es also immer wichtig, wie gut es dem Tier während seines Lebens wirklich erging. Deswegen ist die Mensch-Tierbeziehung so entscheidend: Der Mensch muss im Blick haben, wie es den Tieren geht und bei Auffälligkeiten den Spielraum haben zu handeln. In einem wirtschaftlich engen Rahmen kann das schwierig sein oder wenn etwa die Vorgaben der verschiedenen Stufen den Handlungsspielraum einschränken. Wichtig ist einfach, dass reale Möglichkeiten existieren, das Tierwohl zu bewerten und zu optimieren.
Frau Prof. Kemper: herzlichen Dank für das interessante Gespräch!
Link zum zweiten Teil des Interviews “KI und Digitalisierung – Revolution im Stall?“.
Prof. Dr. Nicole Kemper leitet das Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie (ITTN) an der Tierärztlichen Hochschule Hannover – Link zum Institut