Landwirtschaft am Scheideweg – DLG-Wintertagung 2019

Sven Häuser (DLG), Uwe Mohr, Dr. Kees Scheepens, Prof. Martin Ziron

Zur Eröffnung des Plenums ging es gestern in Hannover um Fortschritt und zwar gleich zwei Mal. DLG-Präsident Hubertus Paetow sprach den Fortschritt im Sinn von „Steigerung“ an. Bei der Suche nach passenden Antworten, auf die veränderten gesellschaftlichen Ansprüche an die Landwirtschaft, setzt er – nicht nur, aber auch – auf Technik, speziell die digitale. Um genau diese ging es dann auch in einem interessanten Impulsforum – dazu später mehr.

Dr. Christian Dürnberger, Philosoph und Kommunikations-Wissenschaftler vom Messerli Forschungsinstitut an der Vetmeduni Wien, nahm in seinem lebhaften Vortrag den Ball gleich auf. In den letzten 100 Jahren führte Fortschritt immer hin zum Besseren, sagte er, und Technik entwickelte sich immer fort – im Gegensatz etwa zur Moral, die Fortschritt nicht notwendig brauche.
War für den Menschen früher die Natur feindlich und grausam, sieht er sie heute als freundlich und ideal. Herrschte vor Jahrzehnten noch Fortschritts-Optimismus allerorten, glauben die Kritiker moderner Landwirtschaft heute nicht, dass Technik helfen kann, die anstehenden Probleme zu lösen.

Deshalb brauche es eine neue Definition von „Fortschritt“, forderte der Österreicher. Der Bauer müsse heute nicht nur sichere und bezahlbare Lebensmittel produzieren, sondern dabei auch seine besondere Verantwortung für Klima, Umwelt und Tiere wahrnehmen und könne im Idealfall über all diese Facetten seiner Arbeit auch noch vor einem interessierten bis kritischen Publikum Auskunft geben. Wenn Fortschritt auch bedeute, sich den großen Herausforderungen seiner Zeit zu stellen, dann müsse sich der Landwirt heute im Besonderen der öffentlichen Debatte stellen.

Impulsforum Tierbeobachtung
Unter dem Motto „Big Brother oder das Auge des Herrn?“ ging es nachmittags ganz konkret um technische Hilfsmittel und klassisch-analoge Verfahren. Im Vortrag von Uwe Mohr „Die gläserne Kuh“ ging es um Kuh-Sensoren, die heute schon auf dem Markt sind (über 30) oder in nicht allzu ferner Zukunft zu haben sein werden.

Natürlich könne es sich kein Milchviehhalter leisten, seine Tiere mir sämtlichen verfügbaren Sensoren zu behängen, sagt der Mann vom Bildungszentrum Triesdorf, aber für Ratschläge zur sinnvollen Auswahl seien ja z. B. er und seine Kollegen zuständig. Landwirtschaft 4.0 bedeute in Zukunft, alle Datenquellen zu verarbeiten und so Handlungsempfehlungen automatisch zu generieren. Der Herdenmanager sei zukünftige auch Datenmanager.

Wichtigster Parameter bei der Kuh sei, so Uwe Mohr, das Wiederkäuen und neben pH-Wert, Körpertemperatur, Futter- und Wasseraufnahme, könne auch die Wiederkau-Aktivität schon heute mittels Pansen-Sensor gemessen werden. Ja sogar die Abkalbe-Vorwarnung wäre mittels Magensensor zuverlässiger, als etwa per Melder am Kuhschwanz.

In Zukunft böte die Bildverarbeitung dann ganz neue Möglichkeiten. Schon heute seien Wärmebildaufnahmen und Kuhortung im Stall möglich, es kämen aber bald automatisches Body-Condition-Scoring und eine Gangbild-Analyse hinzu.

Aber auch mit der Digitalisierung verbundene Probleme sprach der Treisdorfer an. Von Datensicherheit und Internet-Verfügbarkeit im ländlichen Raum, über Technik-Abhängigkeit, ständige Fortbildung und auch Überforderung des Personals, bis zur Verbraucherakzeptanz spannte er den Bogen. Und, last but not least, bestehe die Gefahr, die Basics zu verlernen.

Damit schaffte er den perfekten Übergang zum Vortrag von Dr. Kees Scheepens, dem Schweineflüsterer aus den Niederlanden. Sein Credo „Schweinesignale erkennen, verstehen und nutzen“ bildete den roten Faden des Vortrags.

Da sich bereits nach zwei Wochen im Stall Betriebsblindheit einstelle, sei jeder Bauer gefordert, sich bewusst auf seine Tiere zu fokussieren. Das „Auge des Herrn“ mäste das Vieh nur mit Passion, professioneller Verantwortung und der Bereitschaft zu lebenslangem Lernen.

Auch wenn ein Schwein 80% des Tages schläft oder ruht, wird die restliche Zeit zum allergrößten Teil fürs Wühlen genutzt. Deswegen seien Stroh, Raufutter und Beschäftigung so wichtig. Käme noch ein deutlich größeres Platzangebot hinzu, würde die Krankheitsanfälligkeit deutlich sinken. Jutesäcke wäre zur Beschäftigung bestens geeignet und halbierten sogar Schwanz- und Ohrbeißen bei Ferkeln

Sitzen Schweine in der Bucht, sei dies immer ein Alarmsignal, aber auch wenn sie „weinen“. Was nämlich aussieht wie Tränenstreifen auf den Schweinebacken, ist in Wahrheit Porphyrin aus der Harderschen Drüse. Ausgelöst durch Stress, korrelieren die sog. „bloody tears“ mit Caudophagie. Gleiches gelte auch, wenn Schweineschwänze schlaff herabhängen, statt sich froh zu ringeln. Ergebnisse dänischer Forschung hätten gezeigt, dass Tiere mit hängenden Schwänzen eher gebissen werden. Fällt ein Tier solchermaßen auf, müsse es sofort markiert und sein Zustand besonders häufig überprüft werden.

Prof. Dr. Martin Ziron (FH Soest) forderte anschließend: „Digital und Analog im Stall kombinieren!“ Als direkt bewertbare tierbezogene Indikatoren zählte er Verletzungen, Lahmheit, Sauberkeit, Schwanzlänge und Kümmern auf. Direkt beobachten könnten der Tierhalter oder dessen Angestellte, der Tierarzt oder ein Berater. Klassisch analog vom Zentral- oder Futtergang aus und direkt in der Bucht. An digitaler Technik stünden dafür Kamera, Mikrofon und Bewegungsmelder zur Verfügung.

Beim Sensor-Einsatz seien Milchviehbetriebe deutlich weiter als die Schweinehaltung, weil Schweine fast jeden Sensor in kürzester Zeit zerstören. Deshalb seien am Tier höchstens Thermosensoren geeignet, ansonsten kämen besser Kameras und Mikrofone zum Einsatz.

Allerdings stößt der Einsatz dieser Geräte recht bald an seine Grenzen. 12 Stunden Video-Aufzeichnung sind einfach gemacht, aber den gleichen Zeitaufwand fordert die Auswertung. In der Wissenschaft sei das akzeptabel, für die Praxis aber unvorstellbar. Mikrofone können z. B. Hustengeräusche auffangen, um deren Häufigkeit mit Hilfe einer passenden App anschließend auszuwerten. Allerdings muss immer noch der Mensch dabei schauen, welche Tiere überhaupt beteiligt sind.

Ähnliches gilt für den Einsatz von Wärmebild-Kameras, die sich zwar gut zur Klimakontrolle eignen, aber beim Fiebermessen praktisch unbrauchbar sind. Die Körpertemperatur des Schweins korreliert nicht mit der Rektaltemperatur und, selbst wenn der Messpunkt direkt an der Sauen-Vulva liegt, müsste bei Verdacht auf Fieber das entsprechende Tier per Auge identifiziert und auch noch schnell markiert werden, was in der Gruppenhaltung schwierig werden kann. Hilfreich können Apps sein, wenn Digital und Analog kombiniert werden und bei der Tierkontrolle etwa eine Auswertungsfunktion hilft.

In der wissenschaftlichen Erprobung seien derzeit festmontierte Kameras bei Verhaltensuntersuchungen. Ziel sei z. B. die einzeltierbezogene Erfassung von Aktivität, zurückgelegter Wegstrecke und die Aufenthaltsbereiche in der Bucht. Weitere Forschungsprojekte laufen aktuell zu

+ Abrufstation mit elektronsicher Waage (automatische Gewichtsentwicklung),
+ Erfassung des täglichen Wasserverbrauchs,
+ Ultrahochfrequente-Tiererkennung mit UHF-RFID,
+ Richtmikrofone plus Software zur Minimierung des Erdrückungsrisikos bei Saugferkeln,
+ Echtzeit-Lokalisierung bei Wartesauen mittels Ohrmarken.

In der Entwicklung seien auch Systeme zur dauerhaften Erfassung von Geräuschen im Stall sowie die Aufzeichnung und Auswertung des Liegeverhaltens (Rücken-, Seiten-, Bauchlage) per automatischer Bilderkennung.

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