Antibiotika reduzieren! Auf Null?

Gestern veröffentlichte das BVL die Jahresstatistik 2020 zu den Antibiotika-Abgabemengen in der Tiermedizin (ausführliche Hoftierarzt-Meldung hier). Bei einigen Wirkstoffklassen sind die Mengen leicht gestiegen, bei anderen gesunken und insgesamt gab es einen Anstieg von 4,6% im Vergleich zum Vorjahr (von 670 auf 701 Tonnen). Verglichen mit dem Jahr 2011 aber immer noch einen Rückgang um 58,9% oder 1.005 Tonnen.

Dass irgendwann ein Plateau erreicht sein wird, war abzusehen, denn – um die Frage aus der Überschrift zu beantworten – ein völliger Verzicht auf Antibiotika in der Tiermedizin ist weder erreichbar, noch erstrebenswert. Allein der Tierschutz spricht dagegen. Aber:

„Die Abgabemenge der für die Therapie beim Menschen besonders wichtigen Fluorchinolone stieg in 2020 leicht an. Die Polypeptidantibiotika (Colistin) erreichten ihren bisher niedrigsten Wert seit 2011“, schreibt das BVL. Und hier lohnt ein differenzierter Blick.

Zunächst und grundsätzlich muss man bei der BVL-Statistik immer im Hinterkopf behalten, dass sie Abgabe- und nicht Verbrauchsmengen erfasst. Ebenso, dass eine Lieferung in ein bestimmtes PLZ-Gebiet nicht bedeutet, dass die Arzneimittel auch dort eingesetzt werden. Auf Rinder spezialisierte Tierärzte arbeiten gewöhnlich im näheren Umkreis (u. a. wegen möglicher Notfälle), Schweinepraktiker können durchaus auch Kunden in einigen hundert Kilometer Entfernung betreuen und Geflügelspezialisten sind teilweise sogar im benachbarten Ausland unterwegs. Last but not least, lässt die Abgabe praktisch keine Rückschlüsse auf später behandelte Tierarten zu. Antibiotika werden auch Haus- und Hobbytieren verabreicht, der entsprechende Anteil dürfte aber vergleichsweise gering sein. (1)

Nun hat die Weltgesundheitsorganisation WHO verschiedenen antibiotische Wirkstoffe als wichtig oder besonders wichtig für den Menschen eingestuft, u. a. Colistin und Fluorchinolone und fordert sie möglichst gar nicht bei Tieren einzusetzen. Je seltener ein Antibiotikum benutzt wird, umso länger bleibt seine Wirksamkeit für Mensch und Tier erhalten.

Colistin wird Menschen tatsächlich nur im Notfall verabreicht, weil es starke Nebenwirkungen – vor allem auf die Niere – hat. Bei den Fluorchinolonen sieht es dagegen anders aus. Zwar fehlt eine Mengen-Statistik für die Humanmedizin in Deutschland, aber es gibt Erhebungen z. B. für die Kassenpatienten. Das „Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO)“ beklagt etwa im Jahr 2019: „Fluorchinolone: Risikoreiche Antibiotika trotz bekannter Nebenwirkungen zu häufig verordnet“. Weiter heißt es:

„Nach Berechnungen des WIdO haben 20,4 Millionen und damit mehr als jeder vierte GKV-Versicherte im Jahr 2018 mindestens einmal von ihrem Arzt eine Antibiotikaverordnung erhalten. Von den insgesamt 310 Millionen verordneten Antibiotika-Tagesdosen des Jahres 2018 entfallen 8,2 Prozent (25,6 Millionen Tagesdosen) auf die Gruppe der Fluorchinolon-Antibiotika. (…) Die hohe Zahl der Verordnungen lässt darauf schließen, dass Fluorchinolon-Antibiotika häufig nicht als Mittel der Reserve und auch nicht ausschließlich bei schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Infektionen zum Einsatz kommen“, so Helmut Schröder (stv. Geschäftsführer des WIdO) „Und das, obwohl Fluorchinolone weltweit als Reserve-Antibiotika gelten, also erst nach Versagen anderer Alternativen und für lebensrettende Maßnahmen zur Anwendung kommen.“

Ein Problem bei Fluorchinolonen sind nämlich die möglichen Nebenwirkungen, deren Häufigkeit das WIdO hochgerechnet hat:

„Für die schätzungsweise 3,3 Millionen Patienten, die in Deutschland im Jahr 2018 im Rahmen von 3,5 Millionen Therapien mit Fluorchinolonen behandelt wurden, ist davon auszugehen, dass mehr als 40.000 Patienten zusätzlich von Nebenwirkungen wie einer Schädigung des Nervensystems, der Hauptschlagader oder einem Sehnenriss betroffen waren und sich 140 zusätzliche Todesfälle ereigneten.“ (Die ausführliche Stellungnahme finden Sie hier.)

Auch im Jahr 2020 hat sich die Situation laut AOK nicht wirklich verbessert:

„Im Jahr 2019 waren knapp 18 Millionen Verordnungen von Reserveantibiotika für gesetzlich versicherte Patienten zu verzeichnen. Damit entfiel mehr als jede zweite Antibiotikaverordnung auf ein Reserveantibiotikum. Jeder sechste Versicherte hat mindestens einmal ein solches Medikament erhalten.“ (Link)

Nach „prudent use“ also „umsichtigem Gebrauch“, wie von der WHO gefordert, klingt das nicht unbedingt. Glücklicherweise aber gibt es seit einigen Jahren auch in der Humanmedizin Fortbildungs- und Forschungsprojekte zum Antibiotikaeinsatz, auch und gerade in Zusammenarbeit mit Tiermedizinern nach dem „One-Health-Prinzip“. Wer einfach nur fordert, bestimmte Wirkstoffklassen für die Behandlung kranker Tiere komplett zu verbieten, macht es sich aber zu einfach. Dank verbesserter Impfstrategien und Hygienekonzepte konnte die Colistinmenge seit 2011 drastisch reduziert werden(-52,85), bei anderen Wirkstoffklassen liegt aber noch viel Arbeit vor Tierärzten und Forschern.

(1) Update 16.10.21: Im Gegensatz zu den BVL-Zahlen, ist die Antibiotikaabgabe im QS-System erneut leicht gesunken, wie die Organisation auf ihrer Website schreibt: „Tierhaltende Betriebe im QS-System haben 2020 den Einsatz von Antibiotika im Vergleich zu 2019 um 0,49 % reduziert. Zusätzlich wurde 2020 der Einsatz kritischer Antibiotika um 11,2 % weiter gesenkt. Kritische Antibiotika machen dabei nur einen kleinen Anteil der Gesamtmenge aus: 0,83 % im Jahr 2020. Hierzu gehören auch die Flourchinolone, deren Abgabe 2020 im Vergleich zum vergangenen Jahr um 12,9 % niedriger war.“

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