Zu Beginn seines Vortrags anlässlich der EuroTier 2021, nannte Prof. Dr. Axel Wehrend (Leiter der Klinik für Geburtshilfe an der JLU Gießen) die Geburt einen „kritischen Kontrollpunkt“. Denn die Geburt strahle weit aus: auf spätere Fruchtbarkeit, Milchleistung, Kuh- und Kälbergesundheit.
Zwar ließe sich mittlerweile auf dem Milchviehbetrieb vieles automatisieren, wichtige Entscheidungen rund um die Geburt aber eben nicht: ab wann soll Geburtshilfe geleistet, ab wann ein Tierarzt hinzugezogen werden?
Treten im Geburtszeitraum Probleme auf, drohen der Kuh Verletzungen, Infektionen und direkte Folgeerkrankungen wie Mastitis oder Ketose, aber auch andere Erkrankungen wie z. B. Labmagenverlagerungen haben eine schlechtere Prognose. Und am Ende sinken auch Milchmenge, Milchfett- und Milcheiweißwerte.
Hat eine Kuh bei der Geburt Schmerzen, sinkt die Futteraufnahme mit anschließenden Energiemangel-Erkrankungen und daraus resultierender Störung der Gebärmutterrückbildung. Kommt es zu Verletzungen des Geburtsweges droht eine bakterielle Infektion, d. h. die körpereigenen Abwehrzellen konzentrieren sich dort und stehen für Infektionen an anderen Körperstellen nicht mehr sofort zur Verfügung.
Folgen der Schwergeburt für Kuh und Kalb
Schwergeburten und falsche Geburtshilfe sind Risikofaktoren auch für Kälber. Nach Auszug werden sie deutlich öfter krank, als nach Spontangeburten und auch die Zahl der Todesfälle steigt. Nach Schwergeburten ist beim Kalb häufig eine Ödematisierung des Gesichts, oft auch nur der Zunge, zu beobachten, die zu mangelhafter Kolostrumaufnahme führt, aus der dann wiederum eine erhöhte Infektionsanfälligkeit resultiert. Durchfall, Lungen- und Nabelentzündung sind häufig die Folge und, statistisch bewiesen, höhere Anfälligkeit und schlechtere Fruchtbarkeit im späteren Leben.
In größeren (und auch bereits mittleren) Betrieben gebe es, so Wehrend, haltungsbedingte Probleme bei der individuellen Überwachung. Nicht nur das Temperament des einzelnen Tieres, auch die Intensität der Beobachtung (etwa außerhalb der Kernarbeitszeiten) oder die Gruppengröße erschwerten häufiger die Überwachung einzelner Kühe. Bei Befragung von Betriebsleitern im Osten Deutschlands wurden von den Betriebsleitern auch ökonomische Zwänge rund um die Geburt angesprochen: Überwachung außerhalb der Arbeitszeiten, Tierarztkosten (auch z. B. für Kaiserschnitte).
In diesem Zusammenhang stellte der Gießener Professor die Ergebnisse zweier Doktorarbeiten vor: in der ersten „K. Essmeyer 2006: Aufklärung der Ursachen einer erhöhten Häufigkeit von Totgeburten in einem Milchviehbetrieb“ wurde in einem Milchviehbetrieb eine signifikant höhere Kälbersterblichkeit festgestellt, wenn die Geburten zum Schichtwechsel stattfanden. Wechselten die Geburtshelfer während der Geburt, stiegen die Totgeburten von 8,10% auf 16,18%!
Die zweite Dissertation „Leister 2009: Untersuchungen zur Vitalität neugeborener Kälber in einer Milchviehanlage in Brandenburg bei optimiertem Geburtsmanagement“ zeigte, dass sich die Totgeburtenrate durch optimale Überwachung um mehr als die Hälfte (von 10% auf 4,2%) senken ließ!
Geburtsüberwachung
Zunächst zählte der Gießener Wissenschaftler Anzeichen auf, die häufig als gute Indikatoren einer bevorstehenden Geburt genannt werden: Veränderungen an den äußeren Genitalorganen, wie Ödematisierung (Größenzunahme), Schleimabgang und Farbe der Scheidenschleimhaut, Lockerung der breiten Beckenbänder, Biegbarkeit der Schwanzspitze, Schwanzhaltung, Aufeutern und einige mehr.
Auf einem Praxisbetrieb wurden deswegen Geburten beobachtet und dann zurückgerechnet, welche dieser Anzeichen wie zuverlässig eine Geburt innerhalb von acht Stunden erwarten lassen. 90,5% der Tiere zeigten acht Stunden vor der Geburt eine hochgradige Ödematisierung, aber 48,3% der Kühe zeigten dieses Merkmal bereits sieben Tage vor der Geburt! Bei einzelnen Tieren wurde der Schleimabgang bereits 10 Tage vor der Geburt beobachtet, 35% zeigten acht Stunden vor der Geburt aber keinen Schleimabgang.
Als sicherstes Zeichen erwies sich die Lockerung der breiten Beckenbänder, hier aber sei eine Wiederholungsuntersuchung nötig, weil bei 40% der Kühe bereits sieben Tage vor der Geburt eine mittelgradige Lockerung festgestellt wurde. Den Grad der Lockerung beim Einzeltier richtig zu bestimmen ist aber ein Problem. Und auch Veränderungen am Euter erwiesen sich als nicht aussagekräftig, weil bei 60% der Kühe die Euteranbildung schon 14 Tage vor der Geburt einsetzt und ein Euterödem bei 46% bereits sieben Tage zuvor auftritt.
Es gebe kein sicheres äußeres Anzeigen, das auf acht Stunden genau eine Geburt vorhersagt, führte Wehrend aus. Optimal sei eine Geburtsüberwachung alle Stunde oder wenigstens alle zwei Stunden und hierbei sei immer der Mansch gefordert. Ob vor Ort oder als Beobachter mittels Kamera, ist er bislang als Sensor nicht zu übertreffen.
Geburtsvorbereitung
In die Abkalbebox wird die Kuh idealerweise fünf Tage vor dem errechneten Geburtstermin umgestallt. Die Box sollte täglich frisch eingestreut werden, mit 8-12 kg Stroh pro Tier. Eine Einzelbox – mit Sichtkontakt zu anderen Tieren – wäre hier die beste Lösung, denn eigentlich sondert sich eine Kuh zur Geburt gerne ab und will auch nicht von anderen Gruppenmitgliedern verfolgt werden. Allerdings wird eine solche Einzelbox erst unmittelbar zur Geburt bezogen, was stall-technisch kaum zu realisieren sein dürfte. In jedem Fall sollte aber eine Kontrollmöglichkeit ohne Störung möglich und Platz zur Geburtshilfe vorhanden sein. Fixationsmöglichkeiten und Wasserversorgung gehören ebenso dazu.
Besonders wichtig sei es, die Anreicherung von Keimen zu vermeiden! Abkalbebox und Krankenstall sollten deshalb auch räumlich getrennt sein. Zum Zeitpunkt der Geburt sind Kuh und Kalb maximal infektionsempfindlich und die Kuh selbst scheidet bei der Geburt Keime aus, etwa Coxiellen (1), Salmonellen (2), Neospora (3).
Schwergeburten erkennen
Als statistisch signifikante Früh-Indikatoren einer Schwergeburt haben sich häufiges Scharren, häufiger Harnabsatz und häufiges Scheuern erwiesen. Aufstehen und Hinlegen, Schwanzschlagen oder Umschauen nach dem Bauch lassen keine Rückschlüsse zu auf den Geburtsverlauf zu. Allerdings helfen diese rein statistischen (und im Nachhinein erhobenen) Werte bei der Beobachtung des Einzeltiers nicht. Sichere Kriterien kann auch der Prof. Wehrend nicht benennen.
Kritisch werde es allerdings, wenn zwischen dem Platzen der Fruchtblase und dem Durchtritt des Kopfes über 1,5 Stunden nichts passiert, Teile der Nachgeburt sichtbar werden, bevor das Kalb geboren ist oder nur ein Bein zutage tritt.
Wird eine Kontrolluntersuchung durchgeführt, sollte nicht einfach mit Wasser, sondern besser mit Wasser und Seife gespült werden, weil bei jeder Untersuchung Keime in die Gebärmutter gelangen. Je höher der Keimgehalt in der Gebärmutter aber ist, desto anfälliger für Entzündungen wird sie.
Geburtshilfe
Eine natürliche Geburt erfolgt in drei Phasen: Öffnungs-, Austreibungs- und Nachgeburtsphase. Die maximale Kraftentfaltung der Kuh erfolgt im Liegen, ebenso wird im Liegen der maximale Durchmesser des knöchernen Geburtsweges erreicht. Deswegen sollte ein Auszug auch möglichst bei der liegenden Kuh durchgeführt werden!
In der Öffnungsphase empfiehlt Wehrend zunächst Geduld und keine vorschnellen Eingriffe. Die Austreibungsphase (die gewöhnlich 0,5 bis 2 Stunden dauert) beginnt mit dem Eintritt des Kopfes ins Becken, was Wehen und Bauchpresse verstärkt. Gleichzeitig dehnen sich immer noch die äußeren Geschlechtsorgane der Kuh.
Wird zum Auszug angesetzt, muss die Zugrichtung verändert werden, wenn der Brustkorb des Kalbes sichtbar wird. Das Kalb tritt zunächst gerade aus und kippt dann ab, damit sich die Hinterbeine strecken können! Negativ wirken sich in der Austreibungsphase aus: Stress, Kalzium-, Selen- und Energiemangel sowie Verfettungen (mangelhafte Dehnung!) im hinteren Abschnitt des Geburtsweges.
Grundregeln für den Auszug des Kalbes
• Das Kalb muss normal liegen
• Die Kuh soll liegen
• Wechselseitiger Zug, bis beide Schultern im Becken der Kuh sind, d. h. bis die Schnauze ausgetreten ist
• Dann an beiden Gliedmaßen gleichzeitig ziehen, wenn die Schultern im Becken sind
• Beim Austreten der Brust, den Zug in Richtung Euter ändern
• Maximal zwei Personen, beim Einsatz von mechanischen Geburtshelfern nur mit Kraftbegrenzung!
Mechanische Geburtshelfer
Eine Befragung hessischer Landwirte ergab, dass Geburtshelfer in der Regel zu früh eingesetzt werden, etwa bereits beim Erscheinen der Fruchtblase. Innere Verletzungen der Kuh sind die Folge, vor allem im Moment des Abwinkelns.
Mechanische Geburtshelfer sollten überhaupt nur eingesetzt werden, wenn keine Haltungs-, Stellungs- oder Lage-Anomalien vorliegen; der Muttermund vollständig geöffnet ist und das Kalb sollte nicht (absolut oder relativ) zu groß sein. Der Geburtshelfer müsse auf jeden Fall eine Kraftbegrenzung haben (s. a. DLG-Merkblatt 374) und während der Geburtshilfe sollte auf Dehnung und vor allem auch auf Dehnungspausen geachtet werden.
Lohnt sich ein Kaiserschnitt?
Die Frage, ob sich ein Kaiserschnitt lohnt, beantwortet der Wissenschaftler mit: ja. Wenn er rechtzeitig durchgeführte wird, das Kalb lebt und bevor Verletzungen bei der Kuh vorliegen. Nach einer Untersuchung von Gschwind et al. von 2003 wurden 68% der Kühe nach einem Kaiserschnitt wieder trächtig, wenn das Kalb überlebte (bei totem Kalb nur 46%).
(1) Salmonellose
(2) Q-Fieber
(3) Aborterreger beim Rind