Von Prof. Dr. Rudolf Staufenbiel, Freie Universität Berlin, Klinik für Klauentiere
Die bedarfsgerechte Versorgung mit Selen hat eine herausragende Bedeutung für die Sicherung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Kälber, Jungrinder und Milchkühe. Zugleich gilt es auf Grund des toxischen Potenzials, Überversorgungen zu vermeiden. Doch warum ist Selen so wichtig für das Rind und wie sieht die optimale Versorgung aus?
Die gängigen Futtermittel für Rinder/Wiederkäuer sind überwiegend selenarm und decken den Selenbedarf nicht. Zur Beurteilung der nutritiven und metabolischen Versorgungslage mit Selen steht ein ausdifferenzierter Diagnosekatalog mit gesicherten Referenzwerten zur Verfügung. Darauf aufbauend können der Bedarf für eine Selenergänzung bestandsbezogen abgeleitet und die Einsatzeffekte kontrolliert werden. Zum Ausgleich des Selenbedarfes reicht in der Regel die Rationsergänzung mit einer anorganischen Selenverbindung. Eine Ausnahme bildet die Transitperiode. Zur optimalen Ausstattung der Selenreserven der neugeborenen Kälber scheint die Nutzung von organischen Selenverbindungen von Vorteil sein. Mit der Messung der Selenkonzentration in Blutplasma- oder Blutserumproben steht ein zuverlässiges Kontrollinstrument zur Bewertung des Handlungsbedarfes und zur Erfolgskontrolle in allen Haltungsstufen vom Kalb bis zur Milchkuh zur Verfügung.
Biologische Funktionen von Selen
Die essenzielle Bedeutung von Selen wurde erst 1957, die toxische Wirkung bereits 1937 erkannt. Das Spurenelement vollzieht seine physiologischen Stoffwechselfunktionen in enger Kooperation mit dem Mengenelement Schwefel. Beide Elemente haben nicht nur ähnliche Abkürzungen (Se und S), sondern sie verfügen über weitere Gemeinsamkeiten. Die für die Ausübung der biologischen Aufgaben von Selen zentrale Verbindung ist die Aminosäure Selenocystein. Sowohl die physiologischen Stoffwechselfunktionen von Selen sind von schwefelhaltigen Verbindungen als auch umgekehrt die Wirkungen schwefelhaltiger Enzyme von Selen abhängig.
Die vielfältigen biologischen Funktionen von Selen lassen sich vier Komplexen zuordnen: (1) Antioxidativer Stoffwechsel (Glutathionperoxidase-Familie GPx); (2) Thioredoxin-Redox-System (Thioredoxin-Reduktase-Familie TrxR), (3) Schilddrüsenhormonstoffwechsel (Iodthyronin-Deiodinase-Familie DIO), (4) Immunfunktion. Wichtig ist zu verstehen, dass für die einzelnen Aufgaben nicht nur eine bestimmte Substanz zur Verfügung steht, sondern sowohl innerhalb der genannten Familien eine Reihe an unterschiedlichen Selenverbindungen gleiche Funktionen erfüllen können und darüber hinaus auch außerhalb der Familien andere, selenunabhängige Stoffwechselwege selenabhängige Funktionen übernehmen können. Damit besteht ein Netz an Handlungsoptionen, um auf unterschiedliche Selenversorgungsgrade reagieren zu können.
Eine herausragende Bedeutung übernimmt Selen im antioxidativen Stoffwechsel (Glutathionperoxidase-Familie GPx). Das Leben basiert auf den Ablauf biochemischer Reaktionen in den Körperzellen. Es entstehen ständig eine kleine Anzahl an Molekülen mit einer freien Bindungsstelle (freies Elektron), sogenannte Radikale. Diese Radikale sind hochreaktiv mit einer Halbwertszeit von unter einer Sekunde, in der durch die chemische Reaktion mit einem anderen Molekül die freie Bindungsstelle (Elektronenpaarung) geschlossen wird. Diese Reaktionen laufen substratunspezifisch und ungeordnet ab und schädigen die Integrität der Zelle. Deshalb müssen die Radikale sofort gezielt abgefangen und „entgiftet“ werden. Eine hervorgehobene Gruppe unter den Radikalen bilden die radikalen Sauerstoffmoleküle. Sie entstehen in großen Mengen als Abfallprodukte während der sauerstoffverbrauchenden Energiegewinnung (aerobe Glykolyse) in allen Körperzellen. Eine zweite Gruppe mit einem hohem oxidativen Potential sind die Peroxide (-O-O-Bindung), mit dem bekanntesten Vertreter dem Wasserstoffperoxid (H-O-O-H). Die oxidative Wirkung der unterschiedlichen chemischen Moleküle kann summiert unter dem Begriff „oxidativer Stress“ zusammengefasst werden. Auf Grund der zentralen Bedeutung der zuverlässigen und dauerhaften Kontrolle der oxidativen Last für das Überleben, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit gibt es eine ganze Armee an Gegenmaßnahmen, das sogenannte antioxidative Potential. Diese Armee hat zwei Eliteeinheiten, die an vorderste Stelle die Hauptlast tragen und bei Bedarf von nachgeordneten Einheiten unterstützt werden. In wässrigen Lösungen innerhalb der Körperzellen ist es die selenhaltige Glutathionperoxidase, in den lipidhaltigen Zellmembranen das Vitamin E. Als nachgeordnete antioxidative Substanzen sind Vitamin C, Vitamin A, ß-Karotin, Bilirubin, Albumin, Haptoglobin, Coeruloplasmin zu nennen. Dieses tief ausdifferenzierte Netz der antioxidativen Kapazität erklärt, warum sich ein kurzzeitiger Mangel an Selen nicht unmittelbar in klinische Krankheitsanzeichen manifestiert. Es soll aber auch verdeutlichen, dass es langfristig besser ist, die dafür ausgebildeten Eliteeinheiten in den Kampf zu schicken. Deshalb kommt einer bedarfsgerechten Selenversorgung eine zentrale Bedeutung für die Sicherung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu.
Folgen einer Mangelversorgung
Die bekannteste Mangelerkrankung ist die Nutritive Muskeldystrophie (Weißmuskelkrankheit), bei der es zu einem Muskelzerfall mit Ausscheidung eines durch den freigesetzten Muskelfarbstoff (Myoglobin) rot verfärbten Harn kommt. Diese Erkrankung tritt erst bei einem sehr ausgeprägten Selenmangel (Blutplasmakonzentration unter 30 µg/l) in Kombination mit einem erhöhten Selenbedarf auf Grund eines intensiven Muskelwachstums auf.
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