Quo vadis Anbindehaltung? Zielkonflikt: Tierwohl, Agro-Tourismus und Landschaftspflege

Wenn es nach der EU-Lebensmittelbehörde EFSA geht, soll die ganzjährige Anbindehaltung von Milchkühen in der EU verboten werden. Laut Referentenentwurf zum Tierschutzgesetz ist in Deutschland ab 2028 damit Schluss. In Österreich gibt es sogar schon ab dem 1. Januar 2024 kein AMA-Gütesiegel mehr für Milch von dauerhaft angebundenen Kühen. Anbindehaltung ist ein Auslaufmodell, auch als sogenannte Kombi-Haltung, denn NGOs fordern schon heute auch deren Abschaffung. Prof. Dr. Dr. Matthias Gauly von der Freien Universität Bozen informiert zum aktuellen Sachstand.

Herr Prof. Gauly, allein in Bayern halten noch 50 % der 25.000 Milchviehbetriebe ihre Tiere in Anbindehaltung – das entspricht etwa 30 % der Kühe und 25 % der produzierten Milchmenge. Wie viele Anbinde-Betriebe gibt es denn in Südtirol und wie schaut der typische Betrieb bei Ihnen aus?

Wir haben knapp 5.000 Milcherzeuger und schätzen, dass etwa 70 % der Betriebe Anbinde- oder Kombihaltung betreiben. Das entspricht vermutlich etwa der Hälfte der Kühe.

Sind das eher die kleinen Betriebe?

Wir haben ohnehin fast nur kleine Betriebe, mit Durchschnittsgrößen von 14 bis 15 Kühen. Es gibt sehr wenige, große Laufställe und groß heißt hier jenseits von 50 Kühen. Was die Situation bei uns prekär macht ist, dass diese vielen Betriebe klassische Berglandwirtschafts-Betriebe sind und wir, wenn die aus der Bewirtschaftung fallen, nachteilige Effekte auf das Landschaftsbild haben werden und damit auch auf den Erholungswert, der bei uns natürlich eine hohe Bedeutung für den Tourismus und die Bevölkerung hat.

Wie es der Zufall will, habe ich heute Morgen gelesen, dass die Südtiroler Bergbauern – auch wegen der unzureichenden Milchauszahlungspreise – Hoteliers und Gastwirte über einen „Grünen Euro“ an ihren Kosten beteiligen wollen. So ganz abwegig ist die Idee ja nicht.

Vielleicht eine kurze Bemerkung vorweg: es sollen keineswegs Hoteliers und Gastwirte etwas zahlen! Es geht um die Touristen. Das ist ein Unterschied, der häufig gerne übersehen wird. Ich halte solche Zahlungen keineswegs für abwegig, sondern sogar für dringend erforderlich und berechtigt. Ich halte das für eine sehr gute Idee, wahrscheinlich auch für andere Räume mal überlegenswert. Ich hoffe, dass wir auch die politische Unterstützung finden.

In Österreich sagt sogar der Bauernverband, dass man sich von der Anbindehaltung verabschieden müsse und im Land ist die Rede von € 30 Mio. Förderung pro Jahr für den Umstieg auf mindestens Kombi-Haltung. Aber auch in Südtirol gibt es vermutlich Betriebe die argen Probleme hätten um- oder ganz neu zu bauen.

Prof. Dr. Dr. Matthias Gauly © Freie Universität Bozen

Genau! Vielleicht sogar noch mehr als im Nachbarland, weil sie noch häufiger Lagen haben, in denen der Bau eines Laufstalls schwer möglich wäre, weil dort u.a. die Kosten explodieren. Man kann für 14 Kühe oder weniger keinen Laufstall bauen, der sich wirtschaftlich nur annähernd tragen kann. So viel können Sie gar nicht fördern, um alle in eine reine Laufstallhaltung zu bewegen.

Deswegen wird es ja auch schwierig, denn ohne Zweifel gehen Anbindestall und auch Kombi-Haltung, unter Gesichtspunkten der Ethologie und des Wohlbefindens der Kühe mit erheblichen Problemen einher. Das heißt wir gehen gegenwärtig unbestritten einen gewaltigen Kompromiss ein, was das Tier angeht. Wir rechtfertigen das dadurch, und das würde ich auch unterstützen, dass wir sagen: wir schränken das Wohl der Tiere ein, weil wir gegenwärtig keine Alternative sehen, aber die Tierhaltung hat einen großen Mehrwert, der es noch rechtfertigt. Da geht es u.a. um regionale Lebensmittelerzeugung, den Erhalt von Biodiversität und den Erhalt von sozialen Strukturen auf Gemeindeebene. Aber ich bin schon der Meinung, und da stimme ich auch der EFSA zu, dass eine ganzjährige Anbindehaltung nicht mehr lange vertretbar ist. Wir werden also auch bei uns hier von der ganzjährigen Anbindehaltung weg und mindestens mal zur Kombi-Haltung kommen müssen. Und in diesem Fall müssen alle Bedingungen im Stall optimiert sein. Dazu gehört z.B. auch, dass wir keine großrahmigen HF-Kühe im Kurzstand halten können.

Dann gibt es aber noch eine ganze Reihe von künftigen Kompromissen auch für den Winter. Wir haben hier beispielsweise auch schon Betriebe mit Laufhöfen, in die die Tiere zumindest stundenweise kommen. Und ich denke, dass wir an solchen Optimierungen mittel- bis langfristig nicht vorbeikommen. Und das ist auch gut so, weil uns ja das Wohl der Tiere am Herzen liegen muss.

Ob diese Kompromisse dann vom Handel akzeptiert werden bleibt zu hoffen. Der Handel ist für uns viel wichtiger als das was z.B. die EFSA oder der Gesetzgeber sagen. Der Handel bestimmt ja heute viel mehr, als es der Gesetzgeber tut. Hier machen wir uns schon Sorgen, wenn die Handelsketten in Kürze verkünden, sie würden zunächst die Milch und später auch die verarbeiteten Produkte aus der Anbindehaltung auslisten. Da müssen wir sehen, wo wir bleiben.

In Deutschland gibt es nach dem erwähnten Referentenentwurf die Vorstellung, dass Kühe im Sommer Zugang zur Weide und ganzjährig mindestens zweimal pro Woche auf eine Freifläche kommen. Innerorts stelle ich mir auch das schwierig vor, wobei die Fläche für 15 Kühe auch nicht so wahnsinnig groß sein muss. Ist die praktische Umsetzung denn wenigstens theoretisch denkbar?

Ich halte es für denkbar, aber natürlich nicht für alle Betriebe, das muss man ehrlicherweise sagen. Es gibt hier tatsächlich Betriebe, die keinen Quadratmeter Auslauffläche anbieten können und die zum Teil auch Schwierigkeiten hätten Weide anzubieten. Es ist nur die Frage, ob ich ein ganzes System kippen lasse, um ein paar wenige Betriebe mitzunehmen. Ich fürchte, dass diese wenigen entweder sich mit anderen zu Betriebsgemeinschaften zusammenschließen und dann z.B. neu bauen oder wir tatsächlich den einen oder anderen verlieren.

Wir haben ja jetzt schon Betriebsaufgaben im Milchbereich wie andernorts auch. Ich fürchte, wir werden nicht alle mitnehmen können, aber es muss der Mehrheit gelingen, denn ansonsten haben wir den Akzeptanzverlust und dann ist bei uns die gesamte Milchwirtschaft gefährdet. Das bedeutet aber nicht, dass solche Betriebe, die nicht umstellen können, keine Alternativen zur Grünlandnutzung hätten, wie z.B. Jungviehaufzucht, Schafhaltung oder die Mast.

Sie haben den Zusammenschluss mit anderen angesprochen. Ich hatte mir die Frage notiert: Gemeinschaftsherden – Klammer auf „LPG“ Klammer zu – lässt sich der Südtiroler Bauer darauf ein, mit anderen eine große Herde aufzubauen?

(Lacht) Wenn wir beide von großen Herden reden, reden wir von unterschiedlichen Dingen. Bei uns sind große Herden ja schon solche jenseits der 50 Kühe. Wenn sich also z. B. drei Bauern zusammentun, um einen Gemeinschaftsstall zu betreiben – die arbeiten ja alle im Nebenerwerb muss man sagen – kann das ein sinnvolles Model sein. Dann sind wir ja noch weit von der LPG entfernt.

Aber Sie haben natürlich recht: man muss sich auf der menschlichen Ebene verstehen. Vor allem, und das ist im Moment das große Handicap, es müssten viele gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Sie können z.B. einen Stallbau nur einmal fördern und das auch nur von einem Landwirt beantragen lassen und hier fängt die Problematik bereits an: was passiert bei einer Auflösung der Betriebsgemeinschaft, wenn nur einer den Antrag stellt? Wem gehört der Stall letztendlich? Im Detail sind da unter unseren Bedingungen noch viele Fragen offen.

Wir haben drei Jahre lang solche Vertragsentwürfe entwickelt und es gibt durchaus Lösungen, aber es ist unheimlich wichtig, dass die Bauern bevor sie zusammengehen klären, was bei einer möglichen Trennung passiert, so ähnlich wie beim Ehevertrag. Es ist ja nicht unbedingt ein Streit, der dazu führt, es kann ja auch das Ableben eines Mitglieds sein. Da braucht es ganz klare Lösungen. Aber ich glaube auch, dass Landwirte davon zu überzeugen sind, dass es nicht so schlecht ist mal ein Wochenende frei zu haben oder mal in Urlaub zu fahren.

Sie sagten, die meisten Bauern in Südtirol führen ihre Betriebe im Nebenerwerb. In Bayern z. B. verdienen die kleinsten Betriebe oft ihr Geld mit „Ferien auf dem Bauernhof“ und haben noch fünf Kühe im Stall stehen und vor allem drei Kälber zum Streicheln. Bei dem Geschäftsmodell mache ich mir die größten Sorgen.

Das ist bei uns ein wenig anders geregelt, denn hier spielt der Agro-Tourismus ja eine noch größere Rolle als in vielen Regionen Bayerns. Der Tourismus ist hier stark gefördert worden, es wurden wunderbare Qualitätsprodukte entwickelt, wie der „Rote Hahn“, das Konzept des Bauernbundes, das sehr gut funktioniert.

Hier wurden die Rahmenbedingungen so gesetzt, dass immer noch ein großer Teil des Einkommens aus der Landwirtschaft stammen muss und es nur dann entsprechende finanzielle Anreize gibt: der Betrieb wird z.B. anders besteuert und/oder erhält Unterstützung bei Infrastrukturmaßnahmen. In der Verbindung von Agrotourismus und Produktion kann das finanziell attraktiv sein. Meistens sind diese Betriebe sogar die gesündesten, weil sie auf verschiedenen Beinen stehen. Das kann sehr vorteilhaft sein, wenn etwa die Milchpreise mal in den Keller gehen. Wir haben hier doch eine andere Ausgangssituation als die Nachbarländer und werden auch von einigen darum beneidet, dass die Politik die Weichen in diese Richtung schon relativ früh gestellt hat. Es wird aber auf diesen Betrieben aber auch sehr, sehr viel gearbeitet.

Wir haben in Deutschland in den vergangenen zwei, drei Jahren ja eine ganze Menge tierhaltende Betriebe verloren, vor allem bei den Schweinen, aber auch in der Milchviehhaltung, vor allem wegen der Marktlage, aber auch aufgrund der unsicheren Zukunft. Wie sieht es denn mit der Generationen-Sicherheit in Südtirol aus? Gibt es genug Hofnachfolger?

Im Großen und Ganzen schon. Wir verlieren auch nur (prozentual gesehen) die Hälfte der Betriebe wie Deutschland. Bei Ihnen sind es ja zwischen drei und sechs Prozent und wir liegen bei einer Aufgabe-Rate von 1,5 bis 2 %. Und das hat auch Gründe in der Förderung, vor allem der indirekten Förderung. Darüber hinaus gibt es, glaube ich, bei allen Landwirten eine hohe Motivation, das zu erhalten, was Generationen zuvor geschaffen haben, aber das gilt vielleicht für andere Selbständige.

Auch die jungen Leute schließen nicht einfach die Stalltür ab und es gibt eine hohe Motivation, den Betrieb weiter zu führen. Ob unbedingt in der Milcherzeugung, die ja extrem arbeitsintensiv ist, darf man mehr und mehr bezweifeln, aber die Suche nach Alternativen nimmt zu. Das kann z.B. die Mast sein, das kann der kleine Wiederkäuer sein. Aber wir werden sicher auch einige der jungen Leute verlieren.

Die Planung des BMEL sieht ja einen Ausstieg aus der Anbindehaltung bis 2028 – also in nur vier Jahren – vor: halten Sie den Zeitrahmen für realistisch?

Das ist eine gute Frage. Ich gehe mal davon aus, dass in den letzten 10 oder 15 Jahren in Deutschland niemand mehr Anbindeställe gebaut hat, d.h. diese meist abgeschrieben sein müssten. Insofern finde ich 2028 nicht überambitioniert. Aber einzelne Betriebe wird es sicher vor erhebliche Probleme stellen, etwa all jene, die bis zu dem Zeitpunkt nicht in Rente gegangen sind. Hier braucht es intelligente Anreizsysteme inklusive Subventionen für einen Stallneubau.

Bei uns in Südtirol sieht es ein bisschen anders aus, weil hier tatsächlich noch vor einigen Jahren in Anbindeställe investiert wurde und wir bisher nicht unbedingt die Alternative sehen. Wir haben das erklärte Ziel berglandwirtschaftliche Betriebe zu erhalten, weil sie einfach einen Mehrfachnutzen bieten: sie erzeugen nicht nur Lebensmittel, sondern erhalten unsere Landschaft, dienen der Biodiversität und steigern die Attraktivität für die Gemeinden und das ist für uns auch von einem hohen ökonomischen Wert. Es ist zwar immer schwer zu beziffern, welchen Wert Landwirte in bestimmten Bereichen, wie z.B. im Ehrenamt haben oder welchen Wert die Organisation des Almabtriebs hat. In jedem Fall hat unsere Politik erkannt, dass sie hier massiv unterstützen muss, und das tut sie auch. Aus meiner Sicht zu Recht und nicht alleine zum Nutzen der Bezieher der Mittel.

Wenn man allein an die Pflege der Almwiesen denkt und die Alternative, alle 14 Tage eine Rasenmäher-Brigade dort hoch zu schicken.

Das ist eine Illusion. Es würde z.B. unseren Klimazielen komplett widersprechen. Eine mechanische Offenhaltung der Almen wäre überhaupt nicht zu leisten und ökonomisch unmöglich, ganz abgesehen von negativen Effekten auf verschiedene Bereiche der Biodiversität. Der Landwirt kostet nur einen Bruchteil dessen, was etwa Gemeindearbeiter kosten würden. Und was wir nie vergessen sollten: es werden auf Flächen Lebensmittel erzeugt, die anders nicht zu nutzen sind!

Herr Prof. Gauly, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Ein weiteres Interview zum „Grünen Euro“ finden Sie hier!

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