Das Magazin für Nutztierhalter „Der Hoftierarzt“ ist 5 Jahre alt geworden. Dieses Jubiläum haben wir zum Anlass genommen, mit Frau Prof. Nicole Kemper einmal einen Blick zurück und auch nach vorne zu werfen. Was hat sich in den letzten 5 Jahren in der Nutztierhaltung verändert und wie wird es wohl weitergehen? Prof. Dr. Kemper ist die Direktorin des Institutes für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie (ITTN) an der Tierärztlichen Hochschule Hannover.
Frau Prof. Kemper, vor fünf Jahren haben wir unser Magazin gegründet und Sie haben InnoPig vorgestellt. Seitdem hat sich bei uns ein bisschen was und bei InnoPig und ähnlichen Projekten eine ganze Menge getan.
Gerade aus InnoPig sind noch weitere Projekte entstanden. Ziel damals war herauszufinden, was passiert, wenn Sauen in der Abferkelung nicht oder nur zeitweise fixiert werden. Die Ergebnisse von InnoPig sind mit in die Gesetzesänderungen miteingeflossen und im Anschluss haben sich weitere große Themen ergeben: wie kann vor allem Digitalisierung helfen, noch mehr Tierwohl in die Ställe zu bringen und die Betriebe beim Tier-Monitoring zu unterstützen. Da hat sich viel getan.
Wir sind in den vergangenen fünf Jahren auch bei den sogenannten Tierschutz-Indikatoren weitergekommen. Wo wir aus meiner Sicht schon ganz viel wissen – und da hat InnoPig auch seinen Beitrag geleistet – ist die Frage: wieviel Strukturierung braucht ein Schwein und wie können die gesamten Haltungssysteme noch tiergerechter gestaltet werden?
Zur Strukturierung gehört ja auch der gesamte Platzbedarf. Was wäre denn Ihrer Meinung nach die Mindestbuchtgröße?
Das lässt sich gar nicht so pauschal beantworten. Egal bei welcher Tierart sollte es nie alleine nur um den Platzbedarf bzw. die Besatzdichte gehen. Es sollte immer in der Zusammenschau gesehen werden: welche Struktur bietet der zur Verfügung stehende Raum den Tieren? Die Frage ist auch, wie die Tiere ihren natürlichen Bedürfnissen nachgehen können und das hängt nicht nur von der Größe ab.
Sie haben die technische Unterstützung angesprochen, müssen wir uns darunter Audio- und Video-Systeme vorstellen?
Audio- und Video-Daten, Daten zur Futter- und Wasseraufnahme und auch Wärmebilder sind das eine, wenn es um das Tier an sich geht, aber auf jeden Fall zählen auch Stallklimadaten dazu. Es geht darum, Daten wirklich umfassend zusammenzuführen und auszuwerten.
Gibt es denn schon Systeme, die nach der Datenauswertung auch die richtige Handlungsempfehlung geben?
Dazu laufen aktuell große Forschungsprojekte. Das Nachfolgeprojekt von InnoPig ist das Experimentierfeld DigiSchwein, in dem verschiedene, auf dem Markt befindliche Sensor-Systeme getestet und zusammengeführt werden. Mit den Endergebnissen ist dann nächstes Jahr zu rechnen. Es gibt schon Systeme, die vielversprechend sind, aber von den Lösungen die damals auf der EuroTier 2018 unter dem Motto „Digital Animal Farming“ gezeigt wurden, sind erstaunlich wenige tatsächlich auf den Markt gekommen. Im Nachfolgeprojekt von DigiSchwein, der Zukunftsregion TiPP, wird die digitale Rückverfolgbarkeit und Transparenz entlang der Wertschöpfungskette Schwein in der Region Oldenburger Münsterland noch näher beleuchtet.
Liegt es denn schlicht an den Kosten?
Das glaube ich nicht mal. Ich denke, es fällt vielen noch schwer, den Nutzen digitaler Anwendungen zu erkennen. All unsere wissenschaftlichen Arbeiten zur Frage Was ist der entscheidende Faktor für gute Tiergesundheit? zeigen ja: der entscheidende Faktor ist der Mensch! Und wer dann z. B. nicht besonders technikaffin ist, erkennt nicht gleich den Zusatznutzen, den ein Monitoring 24-Stunden-7-Tage-die-Woche bietet.
So wie ich die Landwirte kenne, fragen die sich morgens ja nicht „was mache ich heute?“ sondern „was lasse ich bleiben?“. Die müssten doch eigentlich bei der technischen Unterstützung „Hurra“ schreien?
Dafür sind die bisher verfügbaren Angebote vielleicht noch nicht weit genug ausgereift. Und es ist zurzeit auch noch kein Rundumpaket beispielsweise für Schweinehalterinnen und Schweinehalter im Angebot.
Dann müssen wir in weiteren fünf Jahren noch mal drüber sprechen.
Ich hoffe doch, dass sich bis dahin noch einiges tut. Letztendlich ist die Erkenntnis entscheidend, dass der Mensch der wichtigste Faktor einer guten Tierbetreuung ist, die Technik den Menschen aber in seiner Entscheidungsfindung sinnvoll unterstützen kann.
Jetzt haben wir über Schweine gesprochen. Zu den Milchkühen hat ja die große PraeRi-Studie umfangreiche Daten geliefert. Wie sieht es denn dort mit den technischen Innovationen aus?
Das entscheidende Ergebnis der PraeRi-Studie ist auch wieder: die größte Rolle spielen die Betriebsleiterinnen bzw. der Betriebsleiter und das Management. Aber die Milchviehbetriebe sind bei der Datenerfassung schon viel weiter als die Schweinebetriebe, bei der Melktechnik, der Bewegungsmessung und Brunsterkennung etwa. Aus den vorhandenen Daten lassen sich auch einige Erkenntnisse ziehen, gerade was das Herdenmanagement betrifft, aber auch hier ist das Thema: wie lassen sich die verschiedenen Daten sinnvoll zusammenführen.
Die Rinderhaltung stand in den vergangenen Jahren auch nicht ganz so im Fokus was den Tierschutz angeht, weil eigentlich davon auszugehen ist, dass Kühe Zugang zu Außenklima haben und vielleicht auch noch Zugang zur Weide. Aber natürlich gibt es auch in der Rinderhaltung noch einige Optionen für Verbesserungen.
Wir haben über Schweine und Rinder gesprochen, kommen wir doch mal zum Geflügel: da „droht“ eine Nutztierhaltungsverordnung z. B. für Puten.
Genau, bisher gelten dort die freiwilligen Eckwerte. Generell ist es begrüßenswert, dass alle Tiere in die Tierschutz-Gesetzgebung mit aufgenommen werden. Bei der Pute wird aktuell natürlich die Besatzdichte stark diskutiert und hier gilt auch wieder: Platz alleine ist es nicht.
Gerade bei der Haltung von Puten mit ungekürzten Schnäbeln ist es wirklich entscheidend, dass alle Faktoren, die eventuell Auswirkungen auf das Verhalten haben können, berücksichtigt werden, wie zum Beispiel Beschäftigungsmaterial, Struktur und Fütterungsmanagement. Auch wenn die Politik gerne einfache Lösungen hätte: Die Haltung unserer Nutztiere ist komplex und erfordert umfassende Expertise.
Ich erinnere mich an meinen ersten Stallbesuch bei Putenhähnen kurz vor dem Ende der Mast. Da regierte ganz deutlich das Testosteron.
Ja, das ist öfter der Fall. Und ein ungekürzter Schnabel, gerade beim Putenhahn, ist tatsächlich eine Waffe. Bei den Legehennen war der Verzicht aufs Schnabelkürzen relativ leicht umzusetzen. Aber Puten mit intakten Schnäbeln zu halten, ist noch mal eine ganz andere Nummer. Wie bei den unkupierten Ringelschwänzen bei Schweinen sehe ich hier zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht die Umsetzung auf breiter Basis.
Auf der Schwierigkeitsskala liegt der Ringelschwanz so ungefähr in der Mitte, oder?
Bei Schweinen glaube ich, dass es in einem Großteil der Fälle möglich ist, die Tiere unkupiert zu halten, wenn die Haltungsumstände optimal sind. Wenn das bis zum Mastende ohne Schwanzbeißen gelingt, ist es auf jeden Fall ein guter Indikator, dass alles richtig gemacht wurde. Bei den Puten ist es ungleich schwieriger, unkupierte Tiere zu halten.
Prof. Robby Anderson von der FH Osnabrück hat mal gesagt: bei Hühnern ist das Federpicken eine Verhaltensstörung, bei Puten aber völlig normales Verhalten.
Bei Hennen und auch bei Puten leiten sich Federpicken und Kannibalismus größtenteils aus dem Explorations-, also dem Erkundungsverhalten, ab. Bei Putenhähnen kommt zudem der Aspekt des Territorialverhaltens und des Konkurrenzkampfs um die Hennen hinzu. Und da kann übrigens eine geringere Besatzdichte tatsächlich kontraproduktiv sein, wenn die Hähne ihren Territorialanspruch massiver ausbauen und verteidigen.
Oh, das ist ja gemein!
Ja, aber das ist natürliches Tierverhalten …
Dann müsste man vielleicht mal Fotos von verletzten Puten publizieren …
Bei der diesjährigen Tierschutz-Tagung im Frühjahr in München haben wir aus einem unserer Forschungsprojekte zur Haltung Schnabel-ungekürzter Puten solche Fotos präsentiert und es ging ein Raunen durch den Saal. Das sind furchtbare Bilder, die so keiner, egal ob Landwirt, Laie oder Experte , sehen möchte.
Laien, besonders in ihrer Eigenschaft als Verbraucher, sehen gerne Ferkel mit Ringelschwanz (von den kupierten Schnäbeln bei Geflügel wissen sie meist noch nichts), sie sehen gern Kühe und Kälber auf der Weide und – ein neuer Trend – finden muttergebundene Kälberaufzucht ganz toll. Für Tierhalter ist aber dieses ganze Programm mit großen Herausforderungen verbunden. Wie können wir denn ein halbwegs realistisches Bild einer akzeptablen bis vorbildlichen Nutztierhaltung transportieren, das auch der Durchschnittsverbraucher versteht?
Da ist in den letzten Jahrzehnten bei der Kommunikation vieles schiefgelaufen. Den Verbrauchern wurde einfach nicht vermittelt, wie Landwirtschaft realistisch abläuft und warum man tut was man tut. Vieles hat gute Gründe, die nicht unbedingt zwingend in der Wirtschaftlichkeit zu suchen sind, sondern beispielsweise auch im Seuchenschutz. Das muss glaubhaft vermittelt werden, und ja, manche Sachverhalte sind komplex. Diese lassen sich aber in der Regel doch vernünftig erklären.
Auch die Wissenschaft muss dazu beitragen, indem sie soweit möglich einfach
und nachvollziehbar kommuniziert. Auch die Landwirtschaft sollte klar Stellung beziehen und vermitteln: Was ihr euch wünscht, können wir in Teilen realisieren, aber manches macht aus bestimmten Gründen einfach keinen Sinn.
Deutsche Verbraucher sind an einen extrem hohen Standard gewöhnt, was Versorgungs- und auch Lebensmittelsicherheit wie Krankheitserreger oder Parasiten betrifft. Sie wissen gar nicht mehr, dass diese Sicherheit teilweise auch den Haltungssystemen mit ihrer hohen Effizienz und Biosicherheit geschuldet ist. Es heißt also zu vermitteln: Ja, wir strengen uns an und verbessern unsere Systeme sinnvoll und wo immer es geht – solange der Verbraucher es bezahlt.
Der Verbraucher gehört damit zum Kreis der Akteure, wenn es um Verbesserung des Tierwohls geht und der Gesetzgeber natürlich auch. Aber wo es tatsächlich lang geht bestimmt doch eigentlich der Handel. Bis Gesetze geändert sind, hat Aldi längst auf Fleisch der Haltungsstufen 3 und 4 umgestellt.
Der Handel sitzt tatsächlich am längeren Hebel und bewirkt Umbrüche auch viel schneller, als das per Gesetz passieren würde. Der LEH will die ganze Spannbreite der Verbraucherwünsche bedienen: Vom Tierwohl- bis zum Billigfleisch, das gerade in Zeiten hoher Inflation eben verstärkt nachgefragt wird.
Bei einem Stufenmodell nach der Haltungsform, wie es nun politisch umgesetzt wird, stört mich, dass dadurch eine „Klassengesellschaft“ entsteht. Aus meiner Sicht sollte es allen Tieren gut gehen, nicht nur den Tieren in den höheren Haltungsstufen Die Politik und der Handel setzen auf die Klassifizierung, um verschiedene Verbrauchersegmente zu bedienen und einen schrittweisen Umbau langsam anzugehen, aber hier wäre es wahrscheinlich zielführender, auch Anreize für Verbesserungen in bestehenden Systemen zu schaffen und schrittweise die breite Basis mitzunehmen.
Im ganz großen Stall mit viel Platz können ja durchaus auch kranke Tiere leben.
Genau. Auch die Größe eines Betriebs sagt nichts über die Tiergesundheit oder das Tierwohl aus, ebenso wenig wie Bio oder konventionell– in allen Haltungssystemen kann es gute und schlechte Betriebe geben. Entscheidend ist wirklich, dass der Mensch den richtigen Blick fürs Tier hat und dann die richtigen Maßnahmen ergreift.
Wie überall im Leben regiert auch in der Tierhaltung die Gauß-Kurve. Wie kann es denn gelingen, die Qualität der Haltung insgesamt weiter ins Positive zu verschieben?
Das lässt sich nur schrittweise erarbeiten. Wir sind in Deutschland in der absoluten Luxusposition, dass wir über eine gute Tierhaltung und ein hohes Tierwohl diskutieren können. Noch vor 10, 12 Jahren hätte ich nie gedacht, dass Tierschutz gesellschaftlich so ein ungemein relevantes Thema wird.
Auch in Sachen Tierwohl könnte Deutschland eine Vorreiterrolle im Tierschutz übernehmen. International wird Deutschlands Landwirtschaft bisher mit einem hohen Technologiegrad und mit hoher Effizienz wahrgenommen. Wenn hier noch der Tierschutz mit aufgenommen wird, ist das auch ein Pfund, mit dem gewuchert werden kann.
Auf der anderen Seite befindet sich Deutschland natürlich auch im internationalen Wettbewerb und sollte konkurrenzfähig bleiben. Das ist die zentrale Herausforderung, die es zu bewältigen gilt – um tatsächlich in die Umsetzung zu gelangen.
Wären denn weitere fünf Jahre ein Zeithorizont für die Umsetzung?
Da bin ich ein bisschen desillusioniert, was die politische Umsetzung betrifft, die realitätsnahe Umsetzung wohlgemerkt. In den letzten Jahren passierte erst gar nichts, und dann wird gleich so weit übers Ziel hinausgeschossen, dass ein Großteil der Landwirte daran zweifelt, ob sich Investitionen überhaupt noch lohnen oder ob die Tierhaltung nicht doch besser aufgegeben wird. Dies ist nicht zielführend für die nötige, zukunftsorientierte Transformation der Landwirtschaft.
Aus wissenschaftlicher Sicht wissen wir sehr viel darüber, was die Tiere brauchen und wie dies in der Praxis umzusetzen ist. Im vor- und nachgelagterten Bereich, beispielsweise im Stallbau, ist so viel Expertise in Deutschland vorhanden. Aber reichen fünf Jahre für die Umsetzung, so dass die Tierhaltung allen gerecht wird, nicht nur den Tieren, sondern auch den Verbrauchern und den Landwirten?
Ein Bestreben in all unserer Forschung ist es stets, die Landwirte mitzunehmen.
Wer soll es denn auch sonst machen? Die Tierhaltung abzuschaffen und dann Fleisch nur noch zu importieren, kann nicht unser Bestreben sein.
Ich bin meist optimistisch und es ist schon viel in Bewegung. Für den Zeitraum von fünf Jahren würde ich mir wünschen, dass vor allem auch die Stimmung unter den Landwirten wieder positiver wird und von der Politik Schritt-für-Schritt-Programme angeboten werden. Die Tierzahlen werden sicher runtergehen – aber für das, was produziert wird, gibt es auch eine adäquate Entlohnung – das wäre mein Wunsch!
Sieht es denn aktuell danach aus?
In der Politik ist das Problem: Bei jedem Regierungswechsel wird sich neu sortiert und das Ziel geändert. Da wird jahrelang am Thema gearbeitet, durchaus von Experteninnen und Experten – Stichwort Borchert-Kommission – und nach einem Regierungswechsel sollte dann doch nicht wieder ganz vor vorne angefangen werden.
Aber Sie sind ja grundoptimistisch eingestellt.
Wenn auch teilweise etwas desillusioniert, bleibe ich optimistisch. In Deutschland ist so viel Expertise vorhanden – egal ob Rind, Schwein oder Geflügel – und innovative Betriebe werden Lösungen finden und sich halten können.
Ich glaube auch, dass wir nicht so schnell von tierischen Produkten wegkommen werden. Reduzierter Fleischkonsum und vielfältige Angebote sind sicher gut, aber tierische Proteine werden weiterhin auf dem Speiseplan stehen und eben deswegen müssen auch Lösungen für die Nutztierhaltung gefunden werden.
Und auch aus wissenschaftlicher Sicht bin ich optimistisch, denn in den letzten Jahren haben wir doch extrem viel Wissen erlangt zu Tiergesundheit und Tierverhalten. Und schließlich: In der Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie, Politik und Landwirtschaft steckt noch so viel Potential und Energie!
Frau Prof. Kemper, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Link zum Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie (ITTN) an der Tierärztlichen Hochschule Hannover
Links zu den ARD-Wissen Filmen mit Prof. Nicole Kemper über Schweine und Puten
Links zu DigiSchwein und TiPP
Das Interview erschien zuerst im E-Magazin „Der Hoftierarzt“ 4/2023