Es gibt gute Gründe für die Notschlachtung eines Rindes und es gibt gute Gründe vorher genau abzuwägen, ob sie im Einzelfall die richtige Entscheidung darstellt. Auf der Tierschutztagung 2023 hielt Dr. Philipp Rolzhäuser (Universität Leipzig) dazu einen bemerkenswerten Vortrag.
In den einschlägigen Verordnungen (1) wird genau beschrieben, wann eine Notschlachtung auf dem Betrieb zulässig und, aus Gründen des Tierschutzes, geboten ist: ein ansonsten gesundes Tier hatte einen Unfall, der den Transport zum Schlachthaus aus Tierschutzgründen verbietet. Die notwendige Schlachttieruntersuchung kann dann ein amtlicher, aber auch ein approbierter, praktischer Tierarzt durchführen, sofern kein Interessenskonflikt vorliegt.
Notschlachtungen sind statthaft, beim Vorliegen von Knochenbrüchen, Muskel- und Sehnenrissen, großen, offenen und stark blutenden Wunden sowie bei Nerventraumata. Bei Diagnosen wie etwa Verlagerungen oder Verschluss von Magen-/Darmteilen oder der Gebärmutter, Schlundverstopfung, Gebärmutter- oder Scheidenvorfall muss der Veterinär eine Einzelfallentscheidung treffen.
Unzulässig und illegal ist die Notschlachtung z. B. bei Fieber, Infektionen, Stoffwechselstörungen, Abmagerung oder Altersschwäche. Kranke oder auch kachektische (ausgezehrte) Tiere dürfen nicht notgeschlachtet werden und das Fleisch muss immer genusstauglich sein.
Zwischen Unfall und tierärztlicher Untersuchung/Diagnose dürfen höchstens 24 Stunden vergangen sein. Bei der Notschlachtung muss der Tierarzt anwesend sein und natürlich müssen alle gesetzlichen Vorgaben für Betäubung und Schlachtung eingehalten werden.
In der Praxis werden die meisten Notschlachtungen sicher auch ordnungsgemäß durchgeführt. Die Analyse von 612 „Bescheinigungen zu Rinder-Notschlachtungen“ eines Schlachtbetriebs wirft allerdings Fragen auf. Die Ergebnisse dieser anonymisierten und pseudonymisierten Auswertung stellte Dr. Rolzhäuser detailliert vor.
Auf 62 Betrieben kam es innerhalb des Auswertungszeitraums
von 28 Monaten zu 1 bis 71 Notschlachtungen. Insgesamt 34 Tierärzte stellten jeweils zwischen 1 und 136 Begleitscheine aus.
92,4 % der Diagnosen lauteten auf Frakturen (Brüche), Traumata (Verletzungen), Rupturen (Muskelrisse) und Paresen (Ausfall motorischer Funktionen) , in 67,7 % der Fälle waren die Hintergliedmaßen betroffen. Allerdings fiel auf, dass einzelne Tierärzten immer dieselbe Diagnose stellten (z. B. 20-mal die Diagnose „Fraktur“).
In manchen Fällen machte auch eine Plausibilitätsprüfung der Begleitscheine stutzig. War überhaupt ein Tierarzt vor Ort, wenn auf den Scheinen nur eine Handschrift zu erkennen ist? Oder wenn lediglich Symptome statt einer Diagnose genannt wurden (z. B. „ausgegrätscht“ statt „Fraktur“). Auch gab es Begründungen, die keinesfalls eine Notschlachtung rechtfertigen, wie etwa Augentumor, Aggressivität oder Arthrose.
Verstöße gegen die rechtskonforme Notschlachtung sind natürlich strafbar (2), insbesondere bei „Falschbeurkundung im Amt“(Tierarzt) und „Anstiftung zur Falschbeurteilung“ (Landwirt). Deshalb: Wirtschaftliche Interessen der Tierhalter sowie die Kundenbindung für Tierärzte, sollten zu keiner Zeit zu einer Falschbeurteilung der Situation führen!
Anmerkungen:
(1)
VO853/2004 Anhang III Abschnitt I Kapitel VI
VERORDNUNG (EG) NR. 853/2004 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs
https://lexparency.de/eu/32004R0853/ANX_III/
VO (EU) 2019/627
Durchführungsverordnung (EU) 2019/627 der Kommission vom 15. März 2019
zur Festlegung einheitlicher praktischer Modalitäten für die Durchführung der amtlichen Kontrollen in Bezug auf für den menschlichen Verzehr bestimmte Erzeugnisse tierischen Ursprungs gemäß der Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates
https://lexparency.de/eu/32019R0627/
Verordnung zum Schutz von Tieren im Zusammenhang mit der Schlachtung oder Tötung und zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates (Tierschutz-Schlachtverordnung – TierSchlV)
https://www.gesetze-im-internet.de/tierschlv_2013/BJNR298200012.html
(2)
Strafgesetzbuch (StGB) § 348 Falschbeurkundung im Amt
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__348.html
Strafgesetzbuch (StGB) § 271 Mittelbare Falschbeurkundung
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__271.html
Tierschutzgesetz § 17 Nr. 2b
https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/__17.html