Linda Dachrodt (TiHo) stellte in ihrem Vortrag Ergebnisse der PraeRi-Studie vor, die Erkenntnisse aus zahlreichen früheren Studien untermauert haben.
Zum Beispiel leiden männliche Kälber in den ersten 14 Lebenstagen häufiger als weibliche Tiere unter Durchfall, Nebelentzündungen und Störungen des Bewegungsapparates und zeigen auch häufiger Symptome von mehr als einer Krankheit gleichzeitig. Bei Atemwegserkrankungen ließ sich bei PraeRi zwar kein Geschlechter-Unterschied feststellen, allerdings kamen Atemwegserkrankungen in den ersten zwei Lebenswochen auch generell seltener vor.
In den ersten Lebenswochen sei das Kolostrum-Management der wichtigste Faktor für Gesundheit und Überlebenschance des Kalbes und beeinflusse maßgeblich auch die spätere Milch- wie Mast-Leistung. Die Referentin zitierte eine kanadische Studie, der zufolge männlichen Kälbern häufig weniger (0,2 Liter) und auch öfter gepooltes Kolostrum angeboten wurde als weiblichen Kälbern. Eine zweite kanadischen Studie ergab, dass 9 % der dort Befragten männlichen Kälbern nicht immer Kolostrum verabreichen und 17 %, den Geschlechtern unterschiedliches Futter anbieten. Männliche Kälber erhielten häufiger bakteriell kontaminierte Biestmilch und würden öfter allein gehalten (dies allerdings auch damit sie nach 14 Tagen nicht quer durch den Betrieb gefahren werden müssen).
Die klinische Einzeltieruntersuchung im Rahmen von PraeRi habe deutlich gezeigt, dass männliche Kälber häufiger krank waren und speziell ab der zweiten Lebenswoche öfter Symptome von mindestens zwei verschiedenen Erkrankungen gleichzeitig zeigten. Diese Ergebnisse ließen vermuten, so Linda Dachrodt, dass in deutschen Milchkuhbetrieben häufiger als im Interview angegeben (5,7%), Unterschiede in der Versorgung von männlichen und weiblichen Kälbern gemacht werden.
Die zukünftig auf 28 Tage verlängerte Aufstallung im Milchviehbetrieb (ab 2023) ließe befürchten, dass gerade die Multimorbidität männlicher Kälber zunehmen und zu einem Anstieg der Mortalitätsrate im Herkunftsbetrieb führen könnte – gerade, wenn höhere Kosten für längere Aufzucht nicht durch höhere Verkaufserlöse für Mastkälber abgedeckt würden.
Deshalb empfahl Laura Dachrodt bereits jetzt eine optimale Erstversorgung mit Kolostrum, ein gutes Tränkemanagement, hohe tägliche Zunahmen und bestmögliche Haltungsbedingungen der Kälber im Milchviehbetrieb zu. Nicht zuletzt, weil nur gut entwickelte und gesunde Kälber kostendeckende Erlöse erzielen könnten und „gute Kälber“ zukünftig sicher stärker nachgefragt würden.
Dr. Laura Kellermann (LMU), die ebenfalls an der PraeRi-Studie mitgewirkt hat, ging anschließend auf postnatale Mortalitätsraten männlicher und weiblicher Kälber in deutschen Milchkuhbetrieben ein. Zwar konnte ein Einfluss der Betriebsgröße für die verschiedenen Regionen (Nord, Ost, Süd) nicht sicher nachgewiesen werden, insgesamt wurden aber auf größeren Betrieben höhere Mortalitätsraten ermittelt: Bei Höfen mit 1-40 Kühen im Mittel 3,10%, kontinuierlich ansteigend bis zu Betrieben mit mehr als 240 Kühen und 7,17% Kälbersterblichkeit.
Bei Betrieben mit 41-60 Kühen, die in etwa gleicher Zahl in allen Regionen an der Studie teilnahmen, konnten außerdem Deutsche Holstein und Fleckvieh verglichen werden. Hier zeigten sich nur geringe Unterschiede bei den Mortalitätsraten weiblicher Kälber bis zum 84. Lebenstag, Ein höheres Verlust-Risiko sei also nicht vorrangig auf die Rasse zurückzuführen.
In den ersten 14 Lebenstagen verstarben laut HI-Tier prozentual mehr männliche als weibliche Kälber in den Regionen Nord und Ost (N: 2,6% zu 2,2 %, O: 3,2% zu 2,8 %), im Süden konnte dagegen kein Unterschied festgestellt werden (jeweils 1,5%).
Wo können nun die Ursachen für erhöhte Mortalitätsraten männlicher Kälber liegen, fragte Dr. Kellermann, und warum unterscheidet sich der Süden von den Regionen Nord und Ost?
Frühere Studien hätten gezeigt, dass es wegen des höheren Geburtsgewichts bei männlichen Kälbern häufiger zu Komplikationen bei der Geburt käme und nach Schwergeburten auch die Kolostrumaufnahme häufig zu gering ausfalle. Deswegen wiederum steige das Erkrankungs- und Mortalitätsrisiko an. Da jedoch in der Region Süd männliche und weibliche Kälber die gleiche Mortalitätsrate hätten, läge nahe, dass ein höheres Geburtsgewicht nicht ausschlaggebend dafür sei, dass männliche Kälber sterben.
Hinter der tendenziell schlechteren Versorgung männlicher Kälber stecke aber keine Absicht, sondern vermutlich eher unbewusste, nicht strukturelle Vorgänge, etwa die Verzögerung intensive Behandlungen kranker Kälber oder eine nachlässigere Tierkontrolle.
Am Ende empfahl Dr. Laura Kellermann allen Milchviehhaltern bewusste Entscheidungen zu überdenken, wie etwa das Vertränken von Hemmstoffmilch an männliche Kälber oder Grippeimpfungen nur für die weibliche Nachzucht.
Generell solle jedes Kalb mindestens 3 Liter Kolostrum erhalten, in den ersten drei Lebenswochen täglich 9 l Vollmilch oder 1.440 g MAT (15,3 MJ ME/kg) und – ganz allgemein – müssten die Kosten der Kälberaufzucht einkalkuliert werden. Neben der moralischen gäbe es schließlich auch die gesetzliche Verpflichtung zur angemessenen Versorgung aller Tiere, unabhängig vom Verkaufserlös.
Über PraeRi:
Die drei Universitäten LMU München, TiHo Hannover und FU Berlin haben sich für eine Prävalenzstudie zu Milchkuhbetrieben in Deutschland zusammengeschlossen. Hierfür wurden 765 zufällig ausgeloste Milchkuhbetriebe untersucht und deren Besitzer befragt: in Niedersachsen/Schleswig-Holstein (n=253), Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen (n=252) und in Bayern (n=260). Untersucht wurden: Fütterung, Eutergesundheit, Lahmheit und weitere haltungsassoziierte Leiden und Schäden, Reproduktion, Stoffwechselgesundheit, Kälber und Jungtiere sowie Infektionskrankheiten und Biosicherheit.