Von Dr. Heike Engels
Kolostrum ist reich an Nährstoffen und Mineralien und enthält auch Abwehrstoffe gegen wichtige Krankheitserreger. Das Kalb ist auf diese erste Portion gesundheitsfördernder und stärkender Stoffe angewiesen, weil es immunologisch naiv auf die Welt kommt. Eine zügige und ausreichende Menge (mindestens 4 Liter, aufgeteilt in 2 Mahlzeiten) an Kolostrum rasch nach der Geburt ist daher extrem wichtig, denn der Dünndarm des Kalbs ist nur in den ersten 24 Stunden nach der Geburt durchlässig für die guten Inhaltsstoffe des Kolostrums. Innerhalb der ersten 4 Lebensstunden ist dieser Effekt am größten. In der Natur würde ein neugeborenes Kalb auch sogleich es stehen kann das Kolostrum durch den Euter der Kuh aufnehmen. Im Stall sollte zusätzlich oder ausschließlich Kolostrum über die Nuckelflasche gegeben werden, um die ausriechende Menge kontrollieren zu können. Viele Studien konnten bereits zeigen, dass ein direkter Zusammenhang mit Kolostrumversorgung und Kälbersterblichkeit besteht: Desto schneller und mehr Kolostrum ein Kalb erhält, desto widerstandsfähiger wird es und desto weniger oft leidet es an Kälberdurchfall.
Das Ziel der hier vorgestellten Studie war, in Milchkuhbetrieben mit erhöhten Kälberverlusten in Niedersachsen das bestandsspezifische Management der Kolostrumversorgung zu erfassen und Probleme aufzudecken. Die Untersuchungen fanden in 56 Milchkuhbetrieben in Niedersachsen statt, die im Jahr 2014 eine Kälberverlustrate von mindestens 20 % aufwiesen und mindestens 30 Milchkühe hielten (Auswahl durch die Tierseuchenkasse Niedersachsen). Untersucht wurden Kälber im Alter von 1 bis 14 Lebenstagen. Daten zu den Themen Kolostrummanagement und Kälbergesundheit wurden anhand eines standardisierten Fragebogens erfasst, der Betrieb wurde besichtigt und alle Kälber in Einzelhaltung unterlagen einer klinischen Untersuchung. Bei Kälbern im Alter von 1 bis 7 Lebenstagen wurde die Gesamteiweißkonzentration im Blutserum untersucht, um den Erfolg der Kolostrumversorgung zu bewerten. Kälber mit Durchfall wurden nicht untersucht. Nach dem Betriebsbesuch erhielten die Landwirte mündlich oder schriftlich Verbesserungsvorschläge für ihr Kolostrummanagement. Nach 8 bis 10 Monaten erfolgte ein weiterer Besuch und es wurde wieder ein Frageboden ausgefüllt und die Kälber untersucht.
In den Datensätzen der beiden Durchgänge unterschied sich das Antwortverhalten der Landwirte im Fragebogen nicht signifikant, sodass die Beratung offensichtlich keinen Einfluss auf das Kolostrummanagement hatte. Trotzdem zeigten die Daten, dass es in vielen Betrieben in Bezug auf den Zeitpunkt der Fütterung, die angebotene Menge und die Methode der Versorgung und Überprüfung des Erfolgs nicht optimal abläuft. Die anhand der Gesamteiweißkonzentration beurteilte Kolostrumversorgung wies ebenfalls darauf hin, dass zu beiden Besuchszeitpunkten nur wenige Betriebe alle Kälber ausreichend mit Kolostrum versorgten. Wichtig für die Interpretation der Daten ist allerdings, dass durch die Vorauswahl der Betriebe mit dem Kriterium „mind. 20 % Kälberverluste“ diese Ergebnisse nicht repräsentativ für alle Milchviehbetriebe ist.
Aber zumindest in dieser ausgewählten Gruppe von Milchviehbetrieben scheint die große Bedeutung der Kolostrumversorgung bei neugeborenen Kälbern noch immer nicht bewusst zu sein. In vielen der untersuchten Betriebe mit hohen Kälberverlusten sehen die Forscherinnen in diesem Punkt einen Verbesserungsbedarf.
Quelle: Korte, Anika et al.: Kolostrummanagement in Betrieben mit hohen Kälberverlusten in Niedersachsen. Tierärztliche Praxis Großtier Nutztier 2021; 49: 375-382.