Prof. Dr. Dr. Matthias Gauly (Freie Universität Bozen) erklärte gleich zu Beginn seines Vortrags auf der „Expertise 2023“, die externen Treiber der Veränderung seien: 1. NGOs und Gesellschaft (wobei offen bliebe, was Henne und was Ei ist). 2. Markt und Handel und erst dann 3. Politik und Gesetzgeber.
Zum Beispiel beschließen deutsche Handelsunternehmen ab 2022 Milch und Milchprodukte mit dem vierstufigen Label für Haltungsformen zu kennzeichnen und Aldi verkündet, für seine Milch-Eigenmarken ab 2030 nur noch Milch aus Haltungen der Stufen 3 und 4 zu verwenden. Alles ohne Zutun des Gesetzgebers.
Auf der Zukunfts-Agenda stehen nach Einschätzung des Professors aus Südtirol die Haltungsform, Gesundheit und Leistung, der Verbleib männlicher Kälber und die muttergebundene Kälberaufzucht. Weiter würden Klima, Flächenkonkurrenz, Regionalität, Verbrauchsgewohnheiten und Alternativprodukte an Bedeutung gewinnen.
Verbraucher bevorzugten in Befragungen eindeutig die Weidehaltung als: naturnah, liebevoll, umweltfreundlich, bäuerlich, gesund und tierfreundlich. Nach den Entscheidungskriterien für ihren Milchkauf gefragt, nennen 51,5% die Weidehaltung (an zweiter Stelle nach „GVO-frei“ mit 52,1%, 37,7% Regionalität, 31,6% niedrigen Preis, 19,1% Heufütterung und 10,4 % Biomilch – Spiller et al. 2014).
In Deutschland hätten 2020 aber nur 31 % aller Milchkühe mindestens sechs Monate Weidegang gehabt und bei Landwirten sei Weidehaltung nicht unbedingt beliebt, weil sie als unkalkulierbare Größe wahrgenommen („was genau frisst meine Kuh da draußen?“) und Stallhaltung – gerade in größeren Betrieben – als effizienter angesehen würde.
Aber: Kiefer und Bahrs verglichen 2015 Weide- und Stallbetriebe in Baden-Württemberg und Bayern, kalkulierten den Durchschnittsgewinn je Kuh und kamen auf € 1.054 bei Weide- und € 906 bei Stallhaltung. Ohne Berücksichtigung der Förderung aus der 2. Säule, kommt man auf praktisch gleiche Zahlen: € 803 in der Weide- und € 815 in der Stallhaltung.
Auch bei der Tiergesundheit zeige sich kein eindeutiges Bild. Armbrecht et al. (2015) bewerteten verschiedene Herden nach dem „Welfare Quality Protocol“ und fanden heraus, dass zwischen Kühen mit und ohne Weidegang am Ende der Weideperiode keine Unterschiede zu sehen sind. Am Ende der Winterperiode schnitten die Kühe aus Weidehaltung allerdings tendenziell schlechter ab.
Zum Themenkomplex „Gesundheit und Leistung“ mahnte Gauly Handlungsbedarf an und verwies auf einschlägige Untersuchungen: Roffeis und Waurich (2013) zeigten an Testherden in Brandenburg, dass ein hoher Anteil von Milchkühen der Leistungsgruppe (100 Tage-Milch-kg) krank war: von 87% bei Milchleistung unter 3.000 kg, bis zu 91% bei über 4.000 kg. Die bekannten PraeRi-Studien wiederum belegten hohe Lahmheits-Prävalenzen bei Milchkühen in ganz Deutschland.
Kälber dürften in Zukunft stärker in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Nicht nur die männlichen Tiere und deren Verbleib, sondern insgesamt alle Kälber als „schwache und besonders schützenswerte Lebewesen“ (was sich schon heute in den Änderungen der Transportverordnung zeige). Auch die muttergebundene Aufzucht dürfte in den nächsten Jahren verstärkt thematisiert werden, sagte der Wissenschaftler aus Italien.
Am zukunftsträchtigsten seien der Laufstall mit Weidegang und konsequentes Gesundheits-Monitoring bei Milchkühen (bei Stärkung der Zweinutzungsrassen). Männliche Kälber der Milchrassen würden zukünftig länger im Betrieb bleiben und ihr Transport eingeschränkt werden. Auch hier dürften Zweinutzungsrassen (evtl. kombiniert mit muttergebundener Aufzucht) an Bedeutung gewinnen.
Bei der Klimafrage gäbe es gute Argumente für die weitere Nutzung von Wiederkäuern (wie anders wäre Gras auch nutzbar?), aber die Systeme müssten optimiert werden, etwa in Zucht und Fütterung. Die Flächennutzung für eine reine Futtermittelproduktion werde vermutlich reduziert und grundfutterbasierte Erzeugung an Bedeutung gewinnen. Bei der Regionalität seine Nischenlösungen gefragt (wobei z. B. in Süddeutschland Österreich oder Frankreich eher zur „Region“ zählen sollten, als der nördlichste Zipfel Deutschlands).
Auf Seiten der Verbraucher dürfte die Zahl der „Flexitarier“ weiter steigen und deshalb sei mit einem weiteren Rückgang beim Verzehr tierischer Produkte zu rechnen. Aber auch die Nachfrage-Entwicklung bei Milch- und Fleisch-Alternativen hänge ab von Preis, Qualität und Nachhaltigkeit.
Fazit: In der Außenkommunikation kommt es zukünftig darauf an, die Kuh vom Image der „Methan-Produzentin“ zu befreien und ihre Haltungsbedingungen und Gesundheit zu verbessern, um Verbraucherwünschen, NGO-Agenden und den Marketing-Ideen des LEH erfolgreich zu begegnen.
Mit einem Verbot der Anbindehaltung, normativen Regelungen der Haltungssysteme (Nutztierhaltungsverordnung für Milchkühe), dem Ende der betäubungslosen Enthornung und einer Bestimmung von „Qualzucht“ bei Milchkühen stehen nach Prof. Gauly schon die nächsten Herausforderungen auf der politischen Agenda.
Expertise 2023: eine hybride Fortbildungsveranstaltung für Tierärzte und Tierärztinnen von MSD Tiergesundheit (9./10. 5. 2023)