Bürgerrat Ernährung – Ratlosigkeit vorprogrammiert

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Noch vor dem Startschuss für die erste Sitzung des „Bürgerrats Ernährung“ im September produziert das Projekt einen Rohrkrepierer. Eine bemerkenswerte Leistung – aber der Reihe nach.

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben am Mittwoch, 10. Mai 2023, die Einsetzung eines Bürgerrates zum Schwerpunkt „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ beschlossen“, heißt es auf der Internetseite des Bundestages

Und weiter: „160 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger sollen (…) Fragen zur Umwelt- und Klimaverträglichkeit, Haltungsbedingungen von Nutztieren, Produktion von Produkten, transparente Lebensmittelkennzeichnung und Lebensmittelverschwendung diskutieren. (…) Außerdem stehen Fragen darüber an, welche Rolle der Staat im Hinblick auf Bildungsangebote in Schulen im Hinblick auf Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll.“

Ein externer Dienstleister soll bei den Sitzungen des Bürgerrates für neutrale Moderation sorgen. Er wird bei der Zusammensetzung eines Experten-Pools sowie bei der Gestaltung des Prozessdesigns beraten von einem „Wissenschaftliche Beirat aus zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anerkannter Hochschulen und Forschungseinrichtungen“.

So weit so gut. Schaut man sich allerdings die elf (!) Mitglieder dieses wissenschaftlichen Beirats an, muss man konstatieren, dass den meisten Mitgliedern zu den meisten Themen jede Kompetenz für die Auswahl geeigneter Fachleute fehlt. Wenn das Gremium zur Hälfte aus Medizinern besteht, ist auch kaum etwas anderes zu erwarten.

Tabelle 1 listet Namen und Fachgebiete der Beiräte auf (Informationen und Links unten).

Tabelle 2 ordnet allen Personen Kompetenzen für die anstehenden Themen des Bürgerrats zu („x“ für sicher und „?“ für eventuell).

Tabelle 2: Kompetenzen der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats

 

 

Was sofort ins Auge sticht: Die Grundlagen-Themen „Nutztierhaltung“ und „Urproduktion“ sind völlig unbesetzt! Wie aber soll – ohne jede fachliche Einführung in Pflanzenbau und Tierhaltung – eine sinnvolle Diskussion über Ernährungsfragen überhaupt zustande kommen? Schließlich ist ohne Urproduktion so gut wie gar keine Ernährung möglich – außer für Jäger und Sammler.

Auch zur industriellen Produktion von Lebensmittel besitzt niemand Expertise (in Zeiten von In-vitro-Fleisch und pflanzlicher Ersatzprodukte wäre auch das aber erwägenswert).

Wäre es nicht sinnvoller gewesen, für jedes der neun Themenfelder (mindestes) zwei anerkannte Experten zu berufen? Geeignete Kandidaten sind jedenfalls nicht schwer zu finden, z. B.:

für die Tierhaltung
Prof. Dr. Nicole Kemper, Direktorin des Instituts für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie (Verhaltensforschung) an der Tierärztlichen Hochschule Hannover
Prof. Dr. Steffen Hoy, Professor für Tierhaltung und Haltungsbiologie, Universität Gießen (bis 2017)

für ökonomische Fragen (auch mit Blick auf anderen Weltregionen)
Prof. Dr. Alfons Balmann, Direktor des Leibnitz Instituts für Agrarentwicklung und Transformationsökonomie
Prof. Dr. Matin Qaim, Leiter des Zentrums für Entwicklungsforschung, Universität Bonn

fürs Klima
Prof. Dr. Jochem Marotzke, Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie
Prof. Dr. Hans von Storch, bis 2015 Professor am Institut für Meteorologie der Universität Hamburg und Leiter des „Instituts für Küstenforschung“

für den Pflanzenbau
Prof. Dr. Henning Kage, Leiter der Abteilung Acker- und Pflanzenbau, Universität Kiel
Prof. Dr. Sonoko Dorothea Bellingrath-Kimura Fachgebiet Pflanzenbau, Bodenkunde Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF e.V.)

und wenn es spezieller sein soll;
für ökologischen Landbau
Prof. Dr. Kurt-Jürgen Hülsbergen Ökologischer Landbau und Pflanzenbausysteme, TU München

für Pflanzenzüchtung
Dr. Dr. Peter Doleschel, Leiter des Instituts für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung, Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft

für Pflanzenschutz
Prof. Dr. Verena Haberlah-Korr, Fachhochschule Südwestfalen, Wissenschaftliche Leitung am Versuchsgut Merklingsen

Schließlich gibt es an der Uni Lüneburg eine eigene „Fakultät Nachhaltigkeit“ mir 25 Professoren. Oder man schaut einfach mal nach „FONA – Forschung für Nachhaltigkeit“ auf der Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

„Der Bürgerrat soll dem Deutschen Bundestag bis zum 29. Februar 2024 seine Handlungsempfehlungen in Form eines Bürgergutachtens vorlegen“, ist auf der Bundestags-Website zu lesen. Wie sollen bei solch mangelhaften Startbedingungen die Bürgerräte aber zu Vorschlägen gelangen, wie zukünftige Nahrungsproduktion (und Ernährungssicherung) aussehen könnten?

Wenn schon der Start eines angeblich zukunftsweisenden Projekts derart misslingt, stellt sich die Frage: Sind die versammelten Parlamentarier tatsächlich ahnungslos, was die einschlägige Wissenschaft betrifft – oder einfach nur lustlos? Nachhaltige Ernährung – und um die geht es – bedeutet mehr als nur gesundes Essen. Für grundstürzende Erkenntnisse wie „mehr Gemüse – weniger Fleisch“ brauchen wir wahrlich keinen Bürgerrat. Für drängende Zukunftsfragen wäre echte Expertise dagegen dringend gefragt.

Ein Kommentar von Thomas Wengenroth

Teil II der Kritik am Bürgerrat (an der Kandidatenauswahl) und Teil der III (am Grund-Konzept) finden Sie hier und hier.

Links:

Website des Bundestages zum Bürgerrat

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats

Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski
Ernährungsmedizin, Vitamine, Hidden Hunger

PD Dr. med. Thomas Ellrott
Hauptaufgabe des Instituts ist die interdisziplinäre Forschung über das menschliche Essverhalten zwischen Ernährungswissenschaft, Psychologie, Pädagogik und Medizin. Dabei werden insbesondere die Determinanten menschlicher Essentscheidungen untersucht. Die Frage „Warum essen Menschen anders als sie sich ernähren sollten?“ steht im Zentrum der Forschungsarbeiten.

Prof. Dr. med. Johannes Erdmann
ist Ernährungsmediziner, Internist, Endokrinologe und Diabetologe mit Schwerpunkt auf der Behandlung von Übergewicht und Diabetes Typ 2.

Prof. Dr. jur. Moritz Hagenmeyer
Lehrbeauftragter für Lebensmittelrecht, Mitglied im Rechtsausschuss des Lebensmittelverbandes Deutschland

Prof. Dr. Hermann Lotze-Campen
Potsdam Institut, Hermann Lotze-Campen is an agricultural economist and Head of Research Department 2 „Climate Resilience“. He is also Professor of Sustainable Land Use and Climate Change at Humboldt-Universität zu Berlin.

Prof. Dr. Britta Renner
Our research focuses on two main thematic areas. First, we investigate motives for normal eating behavior and interventions targeting normal eating. Second, we investigate how risks for communicable and non-communicable diseases are perceived and can be communicated effectively.

Jun.-Prof. Dr. Antje Risius
Forschungsschwerpunkte: Behavior change communication (e. g. informative nudging/boosting)

Prof. Dr. Veronika Somoza
beschäftigt sich mit der Isolation und Charakterisierung sowie der Bioaktivität und Bioverfügbarkeit von Lebensmittelinhaltsstoffen

Prof. Dr. Melanie Eva-Maria Speck
Sozioökonomie in Haushalt und Betrieb

Prof. Dr. Achim Spiller
Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Konsumentenverhalten, Nachhaltigkeitsmanagement, Animal Welfare und Supply Chain Management im Agribusiness.

Prof. Dr. Dr. Wilhelm Windisch
Tierernährung
Wirkungsweise funktioneller Nahrungsinhaltsstoffe, der Nutzung biogener (Rest-) Stoffe neuer Technologien als tierische Nahrung, sowie den physiologischen Gesetzmäßigkeiten und Spielräumen der Nährstofftransformation im Stoffwechsel der Nutztiere bis hin zur den Umweltwirkungen der Nutztierfütterung.

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